Gliederung der Podcastfolge:
Angy [00:00:00] Herzlich willkommen zu „Sprich’s aus! Bei MS“. Mein Name ist Angy Caspar und gemeinsam mit meinen Gästen sprechen wir in diesem Podcast über die Krankheit der 1000 Gesichter. Hör rein, wenn du mehr über ihre inspirierenden Geschichten und Erfahrungen zu dem Umgang mit der Erkrankung im Alltag erfahren möchtest. Denn bei MS kann man eine Menge machen. Viel Freude beim Zuhören.
Angy [00:00:33] Herzlich willkommen zu unserer neuen Folge von „Sprich's aus! Bei MS“. Ich freue mich, dass ihr wieder dabei seid. In diesem Podcast sprechen wir über Themen rund um Multiple Sklerose, tauschen Erfahrungen aus und geben Tipps für das Leben mit MS. Ja, und heute habe ich Dr. Thomas Schulten zu Gast, Oberarzt am Klinikum Leverkusen in der Klinik für Neurologie. Und wir werden heute gemeinsam über den diesjährigen DGN-Kongress sowie die neuesten Entwicklungen im Bereich der Multiplen Sklerose sprechen. Herzlich willkommen, Herr Dr. Schulten und schön, dass Sie da sind.
Dr. Schulten [00:01:07] Ja, hallo. Schön, dass ich dabei sein darf.
Angy [00:01:09] Ja, Ich freue mich sehr, dass Sie sich heute die Zeit genommen haben, zu Gast in unserem Podcast zu sein. Und bitte stellen Sie sich doch kurz unseren Zuhörer:innen einmal vor.
Dr. Schulten [00:01:18] Ja, mein Name ist Thomas Schulten. Ich bin seit über 25 Jahren in Kliniken für Neurologie tätig. Ich bin seit 2005 Oberarzt im Klinikum in Leverkusen, leite da seit 2010 die MS Ambulanz und bin verheiratet, habe zwei Kinder, 53 Jahre und habe glaube ich ganz guten Überblick über die Multiple Sklerose auch im Wandel der Jahrzehnte.
Angy [00:01:46] Das klingt schon mal sehr spannend. Da freue ich mich, wenn Sie gleich ein bisschen davon berichten. Und ich bin auch schon sehr gespannt auf unser Gespräch, denn ich freue mich, dass wir ja heute über die neuesten Erkenntnisse im Bereich der MS sprechen werden. Und das wird sicherlich auch für viele unserer Zuhörenden sehr interessant sein. Ja, und bevor wir beginnen, gibt es noch eine kurze Erläuterung zum Verständnis. Und zwar die DGN, das bedeutet ausformuliert die Deutsche Gesellschaft für Neurologie, ist eine Fachgesellschaft von Neurolog:innen, die sich auf die Förderung der Forschung und Weiterentwicklung der neurologischen Medizin konzentriert. Und ihr Ziel ist es, die Versorgung von Patient:innen mit neurologischen Erkrankungen sowie die Qualität der Neurologie als medizinisches Fach zu verbessern sowie die Kommunikation und den Austausch zwischen Fachleuten auf diesem Gebiet zu fördern. Ja, und da gibt es auch jedes Jahr ein Kongress, bei dem Neuigkeiten aus dem Bereich der Neurologie diskutiert werden. Und jetzt sagen Sie bitte einmal, ob ich das alles so korrekt erläutert habe und was es da gegebenenfalls noch zu ergänzen gibt?
Dr. Schulten [00:02:51] Ja, das ist vollkommen richtig. Also die Deutsche Gesellschaft für Neurologie ist eine Fachgesellschaft, die über die Jahre immer weiter gewachsen sind. Wir haben mittlerweile etwa 12.000 Mitgliederinnen und Mitglieder. Wir haben einmal im Jahr einen Kongress, der in diesem Jahr in Berlin stattgefunden hat. Und da geht es eben darum, sich wissenschaftlich auszutauschen, letztendlich in Kontakt zu kommen mit anderen Neurologinnen und Neurologen und zu schauen, wie der aktuelle Stand der Forschung ist.
Angy [00:03:23] Vielen Dank dafür. Ja, und bevor wir auch genau darüber sprechen, gibt es noch sozusagen eine weitere wichtige Information. Wir werden nämlich heute nicht über bestimmte Medikamente oder Studien sprechen. Und warum ist das so? Das liegt begründet im HWG und das HWG ist die Kurzform für Heilmittelwerbegesetz. Und dieses Heilmittelwerbegesetz regelt, welche Informationen über Arzneimittel von den herstellenden Unternehmen an welche Personengruppen weitergegeben werden dürfen. Und dabei unterscheidet das Gesetz eben auch zwischen rezeptfreien und verschreibungspflichtigen Medikamenten. Bei rezeptfreien Medikamenten ist es tatsächlich so, dass diese frei beworben werden dürfen, während eben bei verschreibungspflichtigen Medikamenten nur Fachkreisen, wie Ärzt:innen und Apotheker:innen diese vorgestellt werden dürfen. Und es wurden bei der DGN aber auch viele andere wichtige und aktuelle Themen rund um die MS besprochen. Und genau damit wollen wir uns eben heute befassen und die DGN veröffentlicht auch sogenannte Behandlungsleitlinien und die MS-Leitlinie wurde zuletzt im März 2023 überarbeitet und veröffentlicht. Was kann man sich denn genau unter diesen Leitlinien vorstellen?
Dr. Schulten [00:04:41] Also diese Leitlinien werden von Expertengremien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie veröffentlicht und die Leitlinie zur Multiplen Sklerose ist in diesem Jahr veröffentlicht worden am 31. März 2023. Sie umfasst mittlerweile über 300 Seiten. Und es geht letztendlich darum zu schauen, wie diagnostiziere ich eine Multiple Sklerose, welche Kriterien kann ich anlegen, was habe ich für Möglichkeiten der Behandlung für die Schubtherapie, aber auch für die verlaufsmodifizierende Behandlung? Was kann man machen für die symptombezogene Therapie, also für die symptomatische Therapie? Und diese Leitlinien, die kann man auch öffentlich einsehen, wenn man auf die Seite der DGN One geht. Also wie Eins, DGN One oder dgn.org/leitlinien eingibt, kann man die auch einsehen mit den Empfehlungen.
Angy [00:05:41] Und was sind denn da Ihres Erachtens die spannendsten Neuerungen der MS-Leitlinie?
Dr. Schulten [00:05:47] Also zum einen ist es eine Leitlinie, die so als Living Guideline jedes Jahr überarbeitet werden soll, also jedes Jahr aktualisiert werden soll. Während frühere Leitlinien häufig mehrere Jahre alt und dann auch schnell veraltet waren, geht es jetzt darum, die Leitlinien doch in einem aktuellen Stand zu halten. Spannend bei der aktuellen Veröffentlichung ist sicherlich zum einen, dass man die in der Zwischenzeit neu zugelassenen Medikamente eingeordnet hat in Wirksamkeitskategorien. Was aber auch spannend ist, dass man dem Bereich der symptombezogenen Therapie mehr Raum gegeben hat und dort doch expliziter auf Probleme eingegangen ist, die eben auch im Rahmen der MS auftreten können, die aber jetzt nichts mit der Therapie der Erkrankung selbst zu tun haben, sondern mit der Behandlung der Symptome, die durch die MS bedingt sind.
Angy [00:06:40] Vielen Dank dafür. Ja, da gehen wir gleich auch noch mal ein bisschen mehr ins Detail. Und Sie hatten ja vorhin gesagt, dass Sie schon sehr, sehr lange sich mit der MS auch beschäftigen. Und da kann ich mir vorstellen, dass Sie ja im Raum Ihrer Karriere bereits einige Neuerungen miterlebt haben und dass es da auch stets neue Therapiemöglichkeiten und Erkenntnisse gibt. Können Sie sich vielleicht noch daran erinnern, wie viele verlaufsmodifizierende Therapien es damals gab, als Sie begonnen haben? Und was da der Unterschied zu damals und heute ist?
Dr. Schulten [00:07:12] Also damals gab es einzelne Therapien. Wir sprechen ja heute nicht über Namen, aber es gab einzelne Therapien, vielleicht ein, zwei Dinge, die eingesetzt wurden. Und im Laufe der Zeit sind in regelmäßigen Abständen Therapien hinzugekommen, die auch wirksamer waren, die auch eine höhere Wirksamkeitskategorie aufweisen. Und wir hatten jetzt in diesem Jahr auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, da wurde von 18 Wirkstoffen und 25 verschiedenen Medikamentennamen gesprochen. Das ist schon eine große Auswahl. Die Zahl ist wirklich deutlich gestiegen und das gibt natürlich eine Riesenchance, auch für den jeweiligen Patienten das passende Medikament herauszufinden. Also die Auswahl der geeigneten Medikation hängt ja von vielen Dingen ab, ob das die Wirksamkeit ist, also wie aktiv ist eigentlich die Multiple Sklerose, wie viele Schübe hat jemand, wie viel Behinderungsprogression, wie viel Aktivität auf den MRT-Aufnahmen zum Beispiel? Aber es gibt noch eine ganze Reihe von anderen Faktoren, die eine Rolle spielen, wie zum Beispiel die Verlaufsform der MS, welche Vortherapien da waren, wie alt der Patient ist, welche Begleiterkrankungen – es gibt also eine ganze Reihe von Faktoren, die man auch noch berücksichtigen muss. Und Ziel ist eigentlich, dass wir individuell für den Patienten oder die Patientin die beste Therapie finden, die zu ihrer Krankheitsaktivität, zu ihrer Lebenssituation auch passt und dass man eben auch die Möglichkeit hat zu wechseln. Also wenn zum Beispiel ein MS-Betroffener auf einer Therapie ist, die nicht ausreichend wirksam ist, dass man die Möglichkeit hat umzustellen auf eine wirksamere Therapie. Da hat sich in den letzten 15 Jahren, 20 Jahren auch die ganze Therapiestrategie geändert. Früher hat man angefangen mit Mitteln, die moderat wirksam waren, weil man vielleicht auch gar nichts anderes hatte. Und heute geht es eher darum, man sagt auch „flipping the pyramid“, also quasi die Pyramide umdrehen und zu sagen: „Wir fangen mit einer sehr effektiven Therapie an, versuchen die Multiple Sklerose zum Stillstand zu bekommen und erst gar nicht Behinderungen auftreten zu lassen.“ Und das ist sicherlich ein Ansatz, der jetzt seit einigen Jahren von den Zentren, die sich mit der MS beschäftigen, vertreten wird und der sehr wirksam ist. Also wir sehen, dass unsere Patientinnen und unsere Patienten heute eine ganze Spur gesünder, also frei von Behinderung sind im Vergleich zu früher.
Angy [00:09:45] Herzlichen Dank für Ihre Erklärung. Ja, und wir haben es ja auch bereits schon von einigen unserer Podcastgäste gehört, dass die Therapieentscheidung für Ärzt:innen und Patient:innen komplex sein kann und anhand verschiedenster Faktoren getroffen wird. Und auch zu diesem Thema haben wir bereits eine Folge mit Professor Meuth aufgenommen. Und das ist die Folge Nummer 18 unserer Podcast-Reihe. Und wenn ihr mehr Details zur Wahl der für euch passenden Therapie erfahren wollt, dann hört doch da gerne mal rein. Ja, und jetzt möchte ich da auch noch mal wieder zurückspringen zu DGN, Herr Dr. Schulten. Und Sie haben ja vorhin schon mal ganz kurz die für Sie wichtigsten neuen Erkenntnisse angeschnitten. Lassen Sie uns doch noch mal darauf zurückkommen. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse in der MS-Behandlung, welche unter anderem auch auf dem DGN-Kongress im November 2023 vorgestellt wurden?
Dr. Schulten [00:10:35] Also das Motto stand so ein bisschen unter dem Begriff Neurodegeneration, also letztlich Untergang von Nervenzellen. Das war das Thema MS, aber auch das Thema Parkinson oder Demenz zum Beispiel. Und es ging darum, dass man mehr das Augenmerk nicht allein bei der Multiplen Sklerose auf die entzündliche Komponente der Erkrankung legt, wo auch die meisten Medikamente drauf wirksam sind, sondern dass man die Erkrankung auch begreift als eine Erkrankung, die eine neurodegenerative Komponente hat, bei der es also langsam zu einer Schädigung von Nervenzellen von Neuronen kommen kann. Man kann sich das vielleicht so vorstellen, das ist so ein bisschen wie so ein „Schwelbrand“. Also man hat es gehemmt überall, wie so ein Waldboden, wenn es da gebrannt hat und hier und da brennt vielleicht mal ein Busch. Das ist dann das, was man im MRT als Herde sieht. Aber man hat auch eine diffuse Entzündung im Gehirn und man hat einige MRT-Befunde, also Befunde in der Kernspintomografie gesehen und sogenannte „smouldering lesions“, also die so schwelen, die sich langsam ausdehnen. Man hat so Läsionen gefunden mit paramagnetischen Eisenringen drumherum, sogenannte „paramagnetic rim-lesions“, PRL abgekürzt, „Pearls“ sagt man dazu, die eben durch eisenbeladene spezielle Zellen sogenannte Mikroglia im Gehirn zustande kommen, die man auch bildgebend darstellen kann und die für den Verlauf eine schlechte Prognose haben. Wenn man diesen Pearls sieht, ist das Risiko groß, dass es einfach eine größere Behinderungsprogression gibt. Das ist ein Korrelat für eine größere Behinderungsprogression und da richtet sich im Moment so ein bisschen das Augenmerk drauf. Zusätzlich gibt es auch noch spezielle Verfahren, sogenannte PET-Verfahren, bei denen man das Augenmerk auf den Stoffwechsel des Gehirns richtet, sogenannte TSPO-PETs. Das wurde auch von einer Kollegin aus Finnland vorgestellt. Ein Zeichen für die diffuse Inflammation, also für die diffuse Entzündung im Gehirn, so dass wir zunehmend eben auch schauen, was passiert im Gehirn selbst. Nicht alle Medikamente, die sehr wirksam sind, treten auch ins Gehirn über. Aber es gibt im Moment in Studien verschiedene Medikamente, die sowohl peripher auf die Entzündung im Blut wirken als auch zentral im Gehirn auf eben zum Beispiel diese aktivierten Mikrogliazellen. Und das ist ein neuer Therapieansatz.
Angy [00:13:11] Okay, und was ich ja auch schon gehört habe, ist ja, dass auch das Alter von MS-Patienten und Patientinnen eine wichtige Rolle bei der Therapiewahl spielen kann. Gab es denn da auch seitens der DGN Neuheiten?
Dr. Schulten [00:13:26] Also letztendlich ist es generell so, dass Patientinnen und Patienten mit MS älter werden. Und wenn man von der MS redet, hat man immer so die jungen Frauen vor Augen, weil das häufig im Alter von 20 bis 40 Jahren diagnostiziert wird und eben nur zweidrittel bis dreiviertel der Betroffenen sind eben Frauen. Aber der Durchschnitt, sozusagen das Durchschnittsalter der MS-Betroffenen in Deutschland liegt ungefähr bei 45 Jahren, die sind also älter. Und wenn man eine individualisierte Therapie starten möchte, sogar durchführen möchte, muss man das Alter mitberücksichtigen, weil manche dieser Therapien das Immunsystem doch deutlich herabsetzen und damit auch ein erhöhtes Risiko für Infektionen oder Tumoren bei älteren Patienten bergen könnten. Das Immunsystem selber altert auch und spricht da von Immunseneszenz, sodass man schon regelmäßig auch diese Therapien, auch diese aktiven Therapien einer Nutzen-Risiko-Analyse unterziehen muss. Ob es noch erforderlich ist, so aktiv zu behandeln, oder ob es auch ausreicht, gegebenenfalls die Therapie auf eine Substanz einer niedrigeren Wirksamkeitsstufe herabzusetzen oder gar auch die Therapie zu beenden. Es gibt erste Studien, Absetzstudien, die sich damit beschäftigen: Wann kann man vielleicht eine Therapie auch beenden? Da haben wir wenig Daten zu und das wird man sicherlich nicht bei jemandem mit 30, 40 Jahren machen, aber wenn jemand über 60 ist, dann hat man da keine Studiendaten zu, weil die Studien-Patientinnen und Patienten jünger sind. Und da muss man Erfahrung sammeln. Dazu gibt es erste Studien. Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie empfiehlt dazu, dass man bei Patientinnen und Patienten, die länger als fünf Jahre frei von Krankheitsaktivität sind, dass man bei denen erwägen kann, ob man die Therapie absetzt. Also das wird ganz vorsichtig formuliert. Aber das ist Thema, weil eben immer mehr MS-Patienten auch älter werden. Wichtig ist, glaube ich, dass man da mit dem Patienten oder der Patientin drüber spricht, dass man über Risiken und Nutzen auch offen redet, dass man in Kontakt bleibt und auch überlegt, will der Patient das Risiko eingehen, dass es auch noch mal zu einem Schubgeben kommen kann oder nicht. Also man kann es ja nicht unbedingt voraussagen. Man kann natürlich schauen, wie war vorher das Aktivitätsniveau und wie ist es hinterher. Aber tatsächlich ist das ein Thema, was zur individualisierten Therapie der älter werdenden Patienten dazugehört, dass man auch die Therapie, die man durchführt, immer wieder analysiert, ob es noch die richtige ist.
Angy [00:16:02] Und ja, neben den medikamentösen Therapien gibt es ja auch noch die symptombezogen Therapien, welche eben wichtig sind, um dem Patient:innen die bestmögliche Lebensqualität zu gewährleisten. Und ja, ich nenne da mal ein paar Beispiele für mögliche Symptome, die ich auch hier im Podcast schon häufiger von Betroffenen gehört habe. Das sind so Symptome wie Lähmungen, Spastiken, Gangstörungen, Schmerzen oder eben Depression, um wirklich nur einen kleinen Auszug der möglichen Begleitsymptome zu nennen. Und welche nicht medikamentösen Ansätze gibt es denn da, Herr Dr. Schulten?
Dr. Schulten [00:16:37] Also es gibt einmal natürlich die klassischen, sag ich jetzt mal, Therapien wie Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie oder auch bei psychiatrischen Erkrankungen dabei natürlich Psychotherapie oder eine psychiatrische Therapie. Es gibt aber auch Bereiche wie zum Beispiel die Fatigue, also eine übermäßige Ermüdbarkeit, bei denen medikamentöse Therapien eigentlich nicht den ersten Platz einnehmen. Da haben wir keine guten Medikamente, die da wirksam sind. Und es gibt auch eigentlich nichts, was wirklich zugelassen ist für die Therapie. Da tut sich im Moment so ein bisschen was auf dem digitalen Sektor. Es gibt digitale Gesundheitsanwendungen, sogenannte DiGAs, die nicht einfache Apps darstellen im Sinne einer Gesundheitsapp, die jetzt irgendwie Schritte zählt oder so, sondern die speziell. Und da gibt es jetzt zwei, die für die Multiple Sklerose zugelassen sind, die Probleme Fatigue und Lebensqualität adressieren.
Angy [00:17:39] Ja.
Dr. Schulten [00:17:39] Und das ist eben auch eine Innovation. Ein neuer Zugang, weil die DiGAs können rezeptiert werden, aber weil man dafür keinen Therapeuten braucht. Also man braucht nicht zusätzlich ein Psychotherapeuten oder Neuropsychologen, der das beaufsichtigt, sondern die Patientinnen und Patienten können das quasi nach eigener Zeiteinteilung machen. Das beruht auf verhaltenstherapeutischen Grundsätzen und ist über einen längeren Zeitraum angelegt. Kann man von zu Hause aus machen. Das ist sicherlich was, was man zukünftig noch häufiger sehen wird. Das gibt es auch in ganz vielen anderen Indikationen schon. Ich glaube, mittlerweile gibt es über 30 von diesen digitalen Gesundheitsanwendungen und auch da wie gesagt, das Thema Lebensqualität und Fatigue hat sich was getan für unsere Betroffenen mit Multipler Sklerose.
Angy [00:18:27] Vielen Dank! Ja, jetzt haben Sie ja schon einige Dinge aufgezählt, die jetzt bei dem diesjährigen Kongress an Neuerung besprochen wurden. Und was ist denn vielleicht aus Ihrer persönlichen Sicht das, wo Sie sagen, das war für mich dieses Jahr besonders neu und vielleicht auch spannend zu hören?
Dr. Schulten [00:18:44] Also da muss man sagen, wie gesagt, gab es einiges. Das ist ein Kongress, der sich nicht nur um Multiple Sklerose dreht. Aber im Bereich der Multiplen Sklerose waren das eben schon diese neuen Therapieansätze und eben der Bereich, wo es jetzt doch auch mehr um das Thema Neurodegeneration geht. Die Frage nach zukünftigen Therapien, was können wir noch erwarten? Da weiß man nie, ob alles, was in der Forschung ist, auch wirklich dann zur Zulassung kommt. Aber man kann auf jeden Fall sagen, dass auf dem Gebiet der Multiplen Sklerose noch viel geforscht wird, viele Studien laufen. Und wir sicherlich auch in Zukunft da noch einiges erwarten können.
Angy [00:19:21] Okay, vielen Dank schon mal dafür. Ja, und wir kommen auch tatsächlich schon langsam zum Ende unserer heutigen Folge. Gibt es denn von Ihrer Seite noch etwas, das Sie unseren Zuhörenden oder auch Ihren Kolleg:innen mitgeben möchten?
Dr. Schulten [00:19:36] Ja, also ich finde es immer ganz wichtig, dass Betroffene mit MS informiert sind, und zwar umfassend informiert sind, dass sie quasi MS-Experten sozusagen in eigener Sache werden. Das ist sehr hilfreich. Jeder kann sich mit dem Thema beschäftigen, jeder kann dazu lernen und versteht dann auch, was gemacht wird. Ich bin immer sehr dafür, dass man Therapien auch mit seinen Patientinnen und seinen Patienten bespricht. Das man es vereinbart und das auch klar ist, was man da tut. Und dazu gehören eben auch, dass man so Sachen anspricht, die vielleicht unangenehm sind, wie so kognitive Störungen zum Beispiel, die treten häufig auf, sind frühzeitig auch schon da. Und das ist ein ganz wichtiger Punkt, auch wenn man sieht, wie wichtig es ist, um eine frühe effektive Therapie zu beginnen. Ich sagte ja, wir setzen frühzeitig wirklich aktivere Substanzen, wirksamere Substanzen ein, um eben so Dinge wie kognitive Störungen oder auch Fatigue zu verhindern und um das Gehirn und auch das Rückenmark, was ja auch betroffen ist von der Multiplen Sklerose, zu schützen und damit Behinderungen zu vermeiden. Und es ist immer sehr sinnvoll, wenn der Patient selber oder die Patienten selber auch weiß, was wir da machen und dass man auch im Gespräch bleibt über die Wirksamkeit, wenn man sich dann über eine Therapie verständigt hat, wenn man Therapie ausgewählt hat, dass man auch das Ganze immer mal wieder reevaluiert, dass man sagt: „Ist es noch wirksam? Ist es ausreichend wirksam? Muss die Therapie gewechselt werden?“ Diese Nutzen-Risiko-Analyse, von der ich vorhin sprach und ein ganz wichtiger Punkt, dass man die symptombezogene Therapie nicht vergisst. Wir reden auf Kongressen immer viel über die Therapie der MS als verlaufsmodifizierende Therapie, aber für den Alltag der Patientinnen und der Patienten sind natürlich die Symptome, die sie beeinträchtigen, allgegenwärtig. Und das ist ein Problem, was häufig viel zu wenig beachtet wird, dass man so Dinge wie Spastik gut behandelt, dass man Schmerzen behandelt, um jetzt nur zwei Beispiele zu nennen, und dass man vielleicht dann auch für solche Dinge, wo wir keine Medikamente haben, auch diese digitalen Gesundheitsanwendungen zur Anwendung bringt, um damit das nicht medikamentöse Spektrum zu erweitern. Und dafür bin ich sehr, dass Patienten sich eben informieren, und zwar bei ihren behandelnden Ärztinnen und Ärzten als erstes. Aber es gibt Vorträge, es gibt auch Podcasts, die man im Netz sehen kann. Es gibt die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Ganz wichtig auch das, was die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft veröffentlicht, auch die, die DMSG, so heißt die abgekürzt, hat eine sehr gute Website, wo sich Betroffene gut informieren können. Ich rate ab sich in irgendwelchen Chats zu bewegen, aber diese Seiten von der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, bei der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, das sind seriöse Seiten, da kann man sich schon sehr gut informieren. Und wenn es um die konkreten Vereinbarungen geht, muss man einfach mit seinen Behandlerinnen und Behandlern, also der entsprechenden Neurologin und Neurologen im Gespräch bleiben.
Angy [00:22:44] Ja, das ist ganz nett, dass Sie da jetzt auch schon einige Anlaufquellen aufgezählt haben. Das wäre nämlich sonst meine Frage gewesen, wo man sich tatsächlich informieren kann. Aber ich frage trotzdem noch mal kurz nach. Ist es denn so, ich meine, ich bin ja, wenn man es so nimmt, bin ich ja Laie und kann man das denn, wenn man vielleicht gerade frisch diagnostiziert wurde, kann man das denn da auch so für sich verstehen, was dann dort zu lesen ist?
Dr. Schulten [00:23:07] Also auf der Seite der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft ist das sehr gut erklärt. Da sind auch so Fragen: Was ist MS und was machen Therapien, auch einfach erklärt, da kann man sich sicherlich gut zurechtfinden. Die Seite der Deutschen Gesellschaft für Neurologie mit den Leitlinien ist natürlich eine ganze Ecke spezieller, weil es sich erst mal an Behandler richtet.
Angy [00:23:30] Ja.
Dr. Schulten [00:23:31] Aber ich glaube, wichtig ist, dass man sich nicht scheut, das Thema anzugehen. Dass man sich nicht scheut, mit der Erkrankung auseinanderzusetzen, um eben ein bisschen Experte in eigener Sache zu werden, weil auch dann kann man die richtigen Fragen stellen und dann versteht man auch, warum was gemacht wird. Und letztlich ist aber auch unsere Aufgabe als Behandler, unseren Patienten zu erklären, was das für eine Erkrankung ist, was mögliche Verlaufsformen sind und was die Möglichkeiten der therapeutischen Intervention können und auch nicht können.
Angy [00:24:03] Ja, vielen Dank dafür. Das heißt, ich fasse noch mal zusammen: So die zwei wichtigsten Punkte, die Sie genannt haben, war zum einen, dass man sich frühzeitig mit dem Thema beschäftigt und gegebenenfalls natürlich auch eine Fachperson aufsucht und sich eben über das Thema MS umfassend informiert. Ja, vielen Dank, Herr Dr. Schulten, für diese umfangreiche Information und dass Sie sich heute die Zeit genommen haben, meine Fragen zu beantworten. Damit konnten Sie sicherlich vielen Zuhörenden neue Impulse geben. Und dann sage ich noch mal herzlichen Dank und verabschiede mich auch schon von Ihnen.
Dr. Schulten [00:24:35] Ja, vielen Dank auch. Es ist schön, wenn man mal über das Thema Multiple Sklerose so sprechen kann. Denn das Schlimmste ist, wenn man versucht, die Erkrankung zu ignorieren. Das Wichtigste ist, dass man sich damit also informiert und dann auch in die Behandlung kommt. Weil wir einfach wissen, die Patientinnen und Patienten, die sich behandeln lassen, haben eine deutlich bessere Prognose. Danke schön.
Angy [00:24:57] Danke Ihnen. Ja, und ich hoffe, dass euch diese Folge wieder gefallen hat und ihr viele Informationen und Tipps mitnehmen konntet. Hört auch gerne beim nächsten Mal wieder rein, wenn es heißt „Sprich's aus! Bei MS“.
Angy [00:25:11] Vielen Dank, dass du uns heute zugehört hast. Du hast Anregungen, Themenvorschläge oder möchtest selbst Teil des Podcasts werden und deine Geschichte mit uns teilen? Dann schreib uns per E-Mail oder direkt auf Instagram. Im Beschreibungstext findest du alle weiteren Informationen und Adressen. Wir freuen uns auf dich.