Gliederung der Podcastfolge:
Angy [00:00:00] Herzlich willkommen zu „Sprich's aus! Bei MS“. Mein Name ist Angy Caspar und gemeinsam mit meinen Gästen sprechen wir in diesem Podcast über die Krankheit der 1000 Gesichter. Hör rein, wenn du mehr über ihre inspirierenden Geschichten und Erfahrungen zu dem Umgang mit der Erkrankung im Alltag erfahren möchtest. Denn bei MS kann man eine Menge machen. Viel Freude beim Zuhören.
Angy [00:00:32] Ja, heute habe ich gleich zwei Gäste: Jule und ihren Mann Sven. In dieser Folge sprechen wir gemeinsam darüber, wie die beiden sich kennengelernt haben und wie sich Jules MS-Diagnose auf ihren Alltag und ihre Beziehung ausgewirkt hat. Und da die beiden eine sehr besondere Geschichte verbindet und sie auch schon viel gemeinsam erlebt haben, wird es auch noch eine weitere Folge mit den beiden geben. Und in der zweiten Folge werden wir dann darüber sprechen, wie sie sich ihren Traum vom Reisen erfüllt haben, was ihre Lieblingsziele, „Must-Sees“, sind und welche Stolpersteine ihnen dabei in den Weg gelegt wurden. Aber heute sprechen wir erst einmal über die Kennenlerngeschichte der beiden und über Jules Diagnose mit MS. Schön, dass ihr beide heute zu Gast seid. Herzlich willkommen, liebe Jule.
Jule [00:01:18] Ja, hallöchen.
Angy [00:01:19] Schön, dass du da bist. Herzlich willkommen, Sven.
Sven [00:01:21] Ja, hallo.
Angy [00:01:22] Auch schön, dass du da bist. Ich freue mich sehr, dass ihr beide heute dabei seid. Stellt euch doch zu Beginn gerne mal vor. Jule, wir starten am besten mit dir.
Jule [00:01:33] Ja, ich bin Jule. Ich bin mittlerweile 31, obwohl es mir manchmal immer noch so vorkommt, dass ich Mitte zwanzig bin. Ich bin gelernte Ergotherapeutin, habe aber sofort nach der Ausbildung im Einzelhandel gearbeitet, als Abteilungsleiterin im Textileinzelhandel und habe dann im Dezember 2015 meine MS Diagnose bekommen. Erst war es die schubförmige MS und das hat sich dann im Laufe der Diagnostik in eine primär progrediente MS (PPMS) geändert.
Angy [00:02:09] Dankeschön! Sven.
Sven [00:02:11] Ja, hallo. Sven mein Name, ganz überraschend. Ich bin noch 40, genau 40. Zu meinem Beruf: Ich habe vor ganz langer Zeit mal LKW-Schlosser gelernt und bin dann über ganz viele Umwege etc. zum Bauleiter geworden. Das hat ein bisschen gedauert, aber ich war dann irgendwann Bauleiter und habe Häuser im Textileinzelhandel umgebaut als Bauleiter, also Ladenbau. Da bin ich so ein bisschen durch Deutschland gezogen und wir haben die Läden dort umgebaut. Das ist es so im Groben zu mir.
Angy [00:02:43] Ja, vielen Dank erstmal. Ihr kennt euch jetzt seit 2015, wenn ich da richtig informiert bin, seid auch schon seit 2018 verheiratet und lebt seit 2020 überwiegend im Ausland. Und als erstes möchte ich gerne von euch wissen, wie habt ihr euch denn damals kennengelernt?
Jule [00:03:03] Also, erstmal: Ich weiß nicht, ob dir das auch aufgefallen ist, Sven.
Sven [00:03:05] Ja, ich habe es gemerkt.
Jule [00:03:07] Das ist gleich immer: Weiß der Mann, wann wir geheiratet haben? Wir haben 2019 geheiratet. Da konnte ich gleich mal testen, ob Sven noch weiß, wann wir geheiratet haben.
Sven [00:03:21] Also das Interview läuft für mich auf jeden Fall besser als die Probe. Da hatte ich nämlich einen Schnitzer, also von daher: Wir können weitermachen.
Jule [00:03:27] Ja, wir haben uns tatsächlich auf der Arbeit kennengelernt. Ganz klassisch. Ich hatte gerade die Filiale gewechselt. Ich habe ganz oft, gerade so in Sachsen, Sachsen¬-Anhalt, immer wieder die Filiale gewechselt. Ich habe immer gesagt, dass ich mal ein Buch schreiben werde: „Meine 13 Monate als Abteilungsleiterin“, weil ich immer nach 13 Monaten die Filiale gewechselt habe und ich war gerade frisch seit ein paar Wochen in Halle an der Saale. Ja, der Store dort wurde umgebaut und...
Sven [00:03:57] Das habe ich gemacht.
Jule [00:04:03] Genau, glücklicherweise war Sven dort der Bauleiter und eigentlich war es total verboten, dass Bauleiter und eine Mitarbeiterin des Ladens irgendwie miteinander anbändeln. Aber meine Kolleginnen fanden das total sweet, uns miteinander zu verkuppeln. Und ich würde sagen, da wir heute hier miteinander aufnehmen: Sie haben es ganz gut hingekriegt.
Sven [00:04:24] Ja, aber jetzt muss ich ganz kurz sagen, die Kolleginnen von Jule, die haben die ganze Zeit versucht mich zu verkuppeln und haben mir immer irgendwie andere Mitarbeiterinnen vorgeschlagen, so von wegen: „Geh mal da hoch, die ist jetzt gerade an der Kasse. Guck dir die doch mal an, das ist eine ganz hübsche“ und so. Es war mir schon ein bisschen unangenehm irgendwann. Und ich durfte ja auch nicht sagen: „Nee, ich habe mir da schon jemand anderen ausgeguckt“ oder wie auch immer. Wir waren da ja auch schon zusammen essen. Externe durften aber halt nichts mit den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen dort... Naja, es war aufs Berufliche begrenzt, sagen wir es mal so. Und ich musste dann still sein und die haben mich immer wieder zu anderen Damen geschickt und ich sollte mir die dann angucken. Es war lustig, aber es war halt auch irgendwie so ein bisschen komisch. Die sagten dann: „Mensch, bist du wählerisch!“ Und ich konnte nicht sagen: „Na ja, ich habe da schon meine Herzdame.“
Angy [00:05:15] Und wann konntet ihr es denn dann endlich öffentlich machen?
Jule [00:05:19] Meine Kolleginnen wussten das eigentlich schon alle, aber ich habe es nur meiner Chefin erzählt, um da ganz transparent zu sein ¬–, aber die war da voll mit dabei: „Yeeah“, die hat sich total gefreut. Wir haben es dann ganz offiziell gemacht – Es ist halt so eine Tradition, dass es eine Wiedereröffnungsfeier gibt für den Store und es haben dann alle gesagt: Gebt ihr es da endlich bekannt?“ Ich sag so: „Ich weiß gar nicht, was wir bekannt geben könnten.“ Und ja, da haben wir es dann aber gemacht. Sven hat den Raum betreten und dann haben wir uns geküsst. Und davon gibt es heute noch Fotos, wie alle möglichen Leute um uns mit dem Handy stehen und das fotografieren.
Sven [00:05:55] Ja, es wurde zelebriert irgendwie. Es war ganz sweet. Also es war auch der tollste Store von den Menschen. Ich habe ja einige deutschlandweit umgebaut, aber die waren einfach nur klasse. Also das muss man echt sagen. Wir kommen ja aus Leipzig und da gibt es ja so ein bisschen diese Hassliebe zwischen Halle und Leipzig. Da wir auch von außerhalb kommen, sind wir da nicht so ganz drin. Ich kann nichts bestätigen, was da irgendwie irgendwann mal besprochen wurde, aber die waren einfach nur klasse die Leute, die da gearbeitet haben. Also es hat richtig viel Spaß gemacht. Wir waren da 11 Wochen und es war richtig, richtig gut.
Angy [00:06:26] Ja, in diesem Fall, für dich, hätte es ja auch nicht besser laufen können, Sven, oder?
Sven [00:06:30] Eben, eben! Genau, also es hat sich tatsächlich gelohnt, ja.
Angy [00:06:35] Ja, und Jule, du hast ja vorhin schon kurz erzählt, wann du deine Diagnose bekommen hast, eben 2015. Und als ihr beiden euch kennengelernt habt, hattest du die Diagnose ja noch gar nicht. Das heißt, ihr wart dann noch gar nicht so lange zusammen, als die Diagnose MS gestellt wurde. Wie ging es dir denn damals? Und hattest du gegebenenfalls auch irgendwie Sorgen, dass Sven sich vielleicht von dir abwenden könnte?
Jule [00:07:02] Also irgendwie war es uns schon so bewusst – Na ja, können wir uns erinnern? So Februar 2015, zusammengekommen sind wir im März 2015 und dann habe ich ja im Dezember im gleichen Jahr die Diagnose gekriegt. Also es war schon immer irgendwie so, dass da gesundheitlich was schlummert. Aber das war natürlich ein mega Schlag, weil sind wir mal ehrlich, MS, da hat ja jeder irgendwie, der das schon mal gehört hat, ja gleich irgendwelche Bilder im Kopf. Und dadurch, dass ich Ergotherapeutin bin, wusste ich auch sofort, was das bedeutet und auch bedeuten kann. Wir sind damals in die Notaufnahme und das ging auch relativ schnell, dass sie die Diagnose gestellt haben. Von der Notaufnahme dann ins Stationäre und Sven ist ja viel unterwegs, aber da hat er sich wirklich die ganze Woche Urlaub genommen und ist jeden Tag ins Krankenhaus gefahren. Ich lag nicht mal in Leipzig im Krankenhaus, sondern eine Stunde entfernt. Er ist jeden Tag die eine Stunde mit dem Auto rausgefahren, also außerhalb von Leipzig und dann wieder nach Hause. Er konnte die ganze Nacht nicht im Bett schlafen, er hat immer auf der Couch geschlafen, weil er gesagt hat, er will nicht ohne mich im Bett schlafen. Er macht sich zu große Sorgen. Also das war schon so, dass man gesagt hat: „Oh, Wahnsinn, der macht sich richtig krass Sorgen.“ Aber als er mich dann abgeholt hat aus dem Krankenhaus, war glaube ich so ziemlich das erste, was ich zu ihm gesagt habe: „Tu mir jetzt einen Gefallen. Wir werden jetzt einen Weg gehen und wir wissen nicht, wie der aussieht. Er kann aber sehr, sehr schwer werden. Wenn du gehst, dann geh jetzt, weil wenn du jetzt anfängst mit mir diesen Weg zu gehen, würde ich es unfair finden, wenn du irgendwann sagst: 'Nee, das möchte ich jetzt doch nicht mehr.'„ Das weiß ich noch wie heute, ich glaube es gibt… Jeder kennt es, man hat so Momente, wo man sagt, „Das war gestern“. Da hat er mich angeguckt, hat mich den Arm genommen und hat gesagt: „Na ja, und wenn du irgendwann nicht mehr laufen kannst, dann trag ich dich halt die Treppen hoch“. Ich bin ein scheidungsgeprägtes Kind. Mein Vater ist sogar schon das zweite Mal geschieden –, aber genau in dem Moment habe ich gewusst: „Okay, den kannst du ruhig heiraten, der bleibt anscheinend bei dir.“ Und wie wir ja schon gehört haben, ich habe ihn dann auch geheiratet.
Angy [00:09:16] Ich bin gerade so ein bisschen still, weil ich habe echt schon Gänsehaut und die bleibt jetzt auch schon seit ein paar Sekunden, weil das ist echt ein rührender Moment. Vielen Dank schon mal fürs Teilen, liebe Jule. Ja, Sven, wie war das für dich? Die Diagnose und was hat sie in dir ausgelöst?
Sven [00:09:32] Ich versuche es mal so zu erklären: Dadurch, dass ich relativ wenig bis gar keine Ahnung hatte, waren da gar nicht so viele Gedanken. Also ich kannte jemanden aus der Jugend, der hatte dann auch irgendwann Multiple Sklerose. Das ist aber auch schon ganz, ganz lange her und da wusste ich, dass es dem – na ja, er hat ab und zu Schübe gehabt und dann hat er mal irgendwie schlecht gesehen und dieses und jenes –, verhältnismäßig aber gut ging. Also das, was ich bis dato wusste. Ich weiß heute nicht, wie es ihm geht, aber damals ging es ihm verhältnismäßig gut. Er konnte alles machen. Er hatte halt hier und da, das hat man immer wieder mal mitgekriegt, so seine Probleme und Einschränkungen. Aber er hatte auch eine Freundin, mit der er dann auch ein Kind gekriegt hat. Also das waren so die Eindrücke, die ich hatte, weil Multiple Sklerose ist ja jetzt auch nicht so weitläufig bekannt wie andere Krankheiten, wo man viel über Fernsehen und was weiß ich für Medien mitbekommt. Von daher habe ich relativ wenig gewusst und habe mir auch gar nicht so die großen Gedanken im ersten Moment gemacht. Letzten Endes hatte sich ja an Jule nichts geändert. Deswegen war es für mich nie so die große Frage, da jetzt irgendwie die Flucht zu ergreifen oder sonst was. Das ist sowieso jetzt nicht unbedingt eine Charaktereigenschaft von mir, dass ich weglaufe oder so. Ich stelle mich dann den Sachen auch schon gern. Wie gesagt, aufgrund der Ahnungslosigkeit, sage ich jetzt einfach mal, hat man sich da auch gar keinen Kopf gemacht. Aber auch später dann, als man sich mehr informiert hatte. Man bekommt einiges mit und man guckt dann halt auch. Ja, also das stand jetzt für mich nie zur Debatte. Ich persönlich finde es auch gar nicht so spektakulär. Also viele sagen, „Oh, ja, total toll“, aber ich persönlich weiß nicht, wie ich das einordnen soll, weil für mich ist es eigentlich klar. Also ich hatte jetzt nicht vor sie zu verlassen und schon gar nicht, weil sie irgendwie krank geworden ist. Also ja, ich kann dazu irgendwie gar nichts Intelligentes mehr sagen, außer, dass es für mich irgendwie nie zur Debatte stand.
Jule [00:11:29] Das ist manchmal auch schwer nachzuvollziehen, weil es gibt immer Momente, wo man denkt: „Boar, wie kann der Mann das eigentlich so wegstecken und so hinter dir stehen?“ Aber der Sven kann das gar nicht beschreiben, der sagt dann immer: „Na, weil ich dich liebe.“ Und dann denkst du immer nur so: „Okay, krass. Aus irgendeinem Grund habe ich das jetzt verdient.“ Aber das ist so, der Sven ist ein einfaches Kerlchen.
Sven [00:11:51] Genau, das sage ich auch: Ich bin ein einfaches Kerlchen und fertig. Ich habe keine Ahnung. Ich will da auch gar keinen wissenschaftlichen Exkurs darüber halten, warum das jetzt so ist, wie es ist. Vielleicht liegt es einfach daran, dass wir in einer Zeit leben, wo – mit Ghosting etc. –, die Leute den Weg des geringsten Widerstands gehen und sobald es Probleme gibt, lässt man sich scheiden, sucht sich einen neuen Partner. Die sind ja alle immer schwer verliebt und nach zwei Wochen sind sie dann in einen anderen schwer verliebt. Keine Ahnung. Vielleicht bin ich da einfach Oldschool und sag mir so: „Das ist meine Frau und zu der stehst du. Fertig. Aus.“ Deswegen ich weiß gar nicht, wie ich das erklären soll.
Jule [00:12:26] Jetzt bin ich wieder sprachlos. Das darfst du nicht mit mir machen so was.
Angy [00:12:30] Deswegen frage ich dich einfach gleich was, Jule. Dann kannst du mir was erzählen. Du hast gerade gesagt, da gibt es manchmal so Momente, wo du so denkst: Dass der das jetzt für mich macht, wow. Hast du vielleicht Lust, von einem solchen Moment zu erzählen, der dir da spontan einfällt?
Jule [00:12:45] Ich mache mal was ganz Aktuelles. Also jetzt vielleicht nicht unbedingt, dass er was aktiv gemacht hat, aber es sind ja auch ganz oft so die Sachen, wie jemand reagiert. Es gab die Situation: Ich habe halt aufgrund der MS eine Harndranginkontinenz. Ist jetzt nicht unbedingt ein Thema, worüber man so offen redet. Und sind wir mal ehrlich, es ist ein absolutes Tabuthema. Wir hatten so viele Termine und ich habe schon den ganzen Tag gemerkt irgendwie, ich muss ständig auf Toilette. Und dann haben wir auf den Färöer–Inseln im Krankenhaus gestanden, weil ich zu einer Blutuntersuchung musste. Da wollten wir abklären, ob das dort möglich ist. Und ich habe irgendwie total pampig reagiert und habe gesagt: „Ja, wenn das jetzt hier nicht geht, dann ist es okay, dann können wir ja gehen“ und bin halt raus gestürmt. Und Sven wusste eigentlich überhaupt nicht, was los ist. Da habe ich halt später zu ihm gesagt: „Na ja, pass mal auf. Ich konnte mein Urin nicht mehr richtig halten.“ Also das ist jetzt nicht so, dass ich mir wirklich in die Hosen gemacht habe, aber es ist halt so, es landet immer irgendwas in der Hose in so einem Moment. Und dann hat er mich angeguckt und hat nur gesagt: „Du passt mal auf, wenn so was passiert, dann wischen wir das weg. Das ist doch okay, na ja, ist ja nicht schlimm.“ Solche Momente sind es halt, wo du immer nur so denkst: „Ja, krass.“ Also auch diese Reaktionen, nicht mal so, dieses Aktive – also das auch –, aber auch diese Reaktionen, wo du dann so denkst: „Oh, das ist genau das, was ich jetzt grad brauche.“ Einfach nur jemanden, der sagt: „Naja, selbst wenn du jetzt in dem Krankenhaus stehst und dir in die Hosen machst, dann hole ich halt den Lappen und wische das weg. Mir doch wurscht.“ So, das ist es halt. Jetzt hat er den Mund grad offen.
Angy [00:14:32] Und ich sitze hier auch gerade vor meinem Rechner und grinse hinein. Schade, dass man das nicht sehen kann. Schön... Ich mache einfach mal weiter und gehe noch mal ein kleines Stück zurück: Nämlich zu deiner Diagnose, Jule. Du hattest ja am Anfang auch schon ganz kurz erwähnt, was du für eine Form von MS hast. Und da bitte ich dich, dass du das für unsere Zuhörenden vielleicht noch mal kurz erläuterst, weil ich mir vorstellen kann, dass vielleicht noch nicht jeder genau weiß, was das ist.
Jule [00:14:58] Genau, die primär progrediente Form ist ja tatsächlich die eher seltenere Form der Multiplen Sklerose. Wir haben die ganz klassische Schubförmige, das ist auch die, die am häufigsten auftritt. Und da kann man sich das jetzt halt einmal so vorstellen: Der Erkrankte hat einfach einen Schub, sprich, da entzündet sich etwas im Gehirn und je nachdem, wo es sich entzündet, hat man halt einfach Empfindungsstörungen. Man sieht jetzt etwas nicht. Oder wie ich eben gerade gesagt habe, man hat Blasenprobleme oder so. Im besten Fall entwickelt sich dieser Schub vollständig zurück und man behält halt keine bleibenden Schäden - Im besten Fall. Und dann gibt es die primär progrediente Form und das bedeutet ich habe keine Schübe. Bei mir ist es jetzt nicht so, dass urplötzlich eine Entzündung da ist und ich plötzlich irgendwelche Symptome habe und die auch wieder zurückgehen können. Bei mir kann man sich das so vorstellen, das ist von Anfang an so ganz schleichend, immer weiter so wie... so wie eine Linie. Ja, Liebling, du weiß doch bestimmt, was ich meine. So eine Linie in so einem Diagramm, es wird halt schleichend immer schlechter. Ich habe halt am Anfang eher weniger Symptome gehabt, die wurden dann nach und nach einfach immer schlechter und da kann man dann halt medikamentös einfach nur sagen: „Okay, wir versuchen jetzt diese Linie – die ich versucht habe bildlich darzustellen – so ein bisschen einzudämmen.“ Aber es wird halt ganz typisch, dieses Wort „schleichend“, immer schlechter. Schleichend setzen halt immer mehr Behinderungen ein, die nach und nach auch immer mehr zunehmen. Wie zum Beispiel: Ich habe eine Halbseitenlähmung und jetzt stellt sich jeder gleich vor, dass ich nicht laufen könnte oder so. Aber das kann ich, nur wird es halt immer schlechter. So, ich kann... Vor zwei Jahren konnte ich noch ganz entspannt meine paar Kilometer laufen. Mittlerweile geht es halt nicht mehr, weil das nach und nach einfach immer schlimmer geworden ist.
Angy [00:17:02] Vielen Dank für die Erklärung. Dann ist es ja auch so, dass du zu der MS auch noch zwei weitere andere Diagnosen bekommen hast. Was genau ist das?
Jule [00:17:14] Genau, ich sag mal so: Ich habe so ein buntes neurologisches Potpourri. Ich habe zum Beispiel auch noch was mit der Wirbelsäule, das erwähne ich schon gar nicht, weil es irgendwie daneben total langweilig aussieht. Ich habe noch eine Form der Epilepsie und habe eine chronische Fatigue, das chronische Fatigue-Syndrom. Es kam so alles immer in einem zwei Jahresabstand, wenn ich jetzt mal gerade drüber nachdenke. 2015 die MS, 2017 die Epilepsie und dann das chronische Fatigue-Syndrom 2019. Also ich bin der Meinung, dass es das alles schon länger gab, aber die endgültigen Diagnosen gab es dann 2017 und 2019.
Angy [00:18:00] Okay. Ja und du oder ich kann ja auch sagen Ihr gemeinsam geht ja, sage ich mal, ziemlich offen mit, ich nenne es einfach mal „eurer“ Situation um. Und seid ja auch sehr aktiv in den Medien, habt einen Blog und Instagram und YouTube. Und ja, damals wart ihr beide berufstätig, dann hast du die Diagnose bekommen. Wie hat sich denn dann euer Leben verändert? Und wie ist es dazu gekommen, dass ihr jetzt so einen offenen Umgang damit pflegt?
Jule [00:18:33] Ich fange einfach mal an, Ladies first...
Sven [00:18:35] Ja, Ladies first, bitte. Ich bin ja auch nur mit dabei, es geht ja um dich.
Jule [00:18:41] Tatsächlich habe ich nach meiner Diagnose gar nicht mehr so lange gearbeitet – um nicht zu sagen – vier Tage voll. Also ich habe nach der Diagnose eine Reha gemacht - So ganz klassisch, vier Wochen Reha. Dann nach der Reha bin ich in die Wiedereingliederung gegangen. Drei Stunden, sechs Stunden. Und da war es schon so, dass ich gedacht habe: „Mhm… Das hat sich jetzt aber ganz schön verändert alles.“ Und ich habe dann immer nur gedacht: „Okay, krass.“ Dann habe ich auch schon die ersten Tage gefehlt, also während der Wiedereingliederung und ja, es war ein komischer Zeitpunkt, muss man dazu sagen. Ich war grad in einer Filiale, die geschlossen werden sollte und ich war eigentlich nicht bei meiner geliebten Chefin zu dem Zeitpunkt. Ich glaube, die hätte ein bisschen anders reagiert, aber der Chef hat halt damals reagiert mit: „Ja, ja, ist schon alles gut, ich unterschreibe, dass du die Wiedereingliederung geschafft hast.“ Und dann bin ich halt wieder eingestiegen mit acht Stunden und das habe ich genau 4 Tage geschafft. Danach habe ich Sturzbäche weinend auf dem Bett gesessen und habe gesagt: „Ich glaube, das schaffe ich nicht“.
Sven [00:19:57] Ganz so war es ja nicht, du wolltest ja eigentlich gar nicht. Also es war so, dass ich sie abends von der Arbeit abgeholt habe und sie da humpelnd aus diesem Laden rausgekommen ist und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Auch die erste Zeit bei der Wiedereingliederung. Das war dann so: „Eigentlich würde ich jetzt gerne den Arbeitgeber vor einen Bus schmeißen“, sage ich mal, um es so auszudrücken. Es ist so, die haben sich alles andere als irgendwie sozial verhalten, also eher das Gegenteil. Aber das sprechen wir so jetzt nicht aus. Die haben dann auch die Wiedereingliederung, die ganzen Maßnahmen, dafür missbraucht, weil man dadurch einen relativ günstigen Arbeitnehmer hatte, in dem Sinne. Das hat sie auch alles mit sich machen lassen, weil sie war ja karriereorientiert und hat auch wirklich alles versucht. Aber an irgendeinem Punkt mussten wir halt einfach da drüber sprechen, weil wenn du da wie gesagt schmerzverzerrt aus diesem Laden rauskommst, dir die Beine zittern und du dieses und jenes einfach nicht mehr kannst, dann bist du an dem Punkt, wo du überlegen musst: Was ist jetzt wichtiger? Also Lebensqualität, diesen Beruf ausüben oder irgendetwas anderes suchen, was man halt machen kann, ohne dass man irgendwie Stammgast in der Apotheke sein muss für irgendwelche Ibuprofen oder irgendwelche anderen Schmerztabletten, die dann am Ende sowieso nicht helfen. Also das hat alles nichts gebracht. Und dann, ja...
Jule [00:21:21] Es war aber auch allgemein eine schwierige Situation. Ich glaube, jeder der neu diagnostiziert wird, der kommt halt auch an diesen Punkt. Ich bin halt aus der Reha gekommen. Wiedereingliederung, dann wieder normal arbeiten und währenddessen war halt auch diese Medikamenteneinstellung. Und Medikamenteneinstellung ist einfach auch eine psychische Belastung, weil urplötzlich so dieses „Okay, du nimmst jetzt hier plötzlich so Spritzen“ kommt. Ich musste plötzlich selbst spritzen, das war eine psychische Belastung. Und dann auch das, was der Körper da durchmacht. Es ist ja nicht nur die Diagnose, dass du da gerade etwas durchmachst, nein, auch durch die Medikamente und die Nebenwirkungen. Der Körper muss sich anpassen. Es war glaube ich einfach eine unglaublich schwierige Zeit und das ist glaube ich für jeden frisch Diagnostizierten einfach schwierig. Da ist es dann manchmal ein bisschen schade, glaube ich, dass der Arbeitgeber da nicht ein bisschen mehr auf einen zugeht. Weil ja, im Endeffekt ist es alles so gekommen und ich glaube auch nicht, dass es anders gekommen wäre. Aber ich glaube, wenn man mehr ins Gespräch gegangen wäre, hätte man vielleicht auch noch am Anfang noch andere Lösungen suchen können erstmal. Anstatt, dass ich nach diesen vier Tagen nicht einmal wieder bei meinem Arbeitgeber war zum Arbeiten. Also im Endeffekt sage ich, dass es immer schade bleibt, weil ich war da auch sehr, sehr gerne arbeiten. Und klar, ich glaube bis heute, dass es nicht mehr geschafft hätte und ich meine, ich beziehe mittlerweile eine Erwerbsminderungsrente. Also spätestens jetzt hätte es nicht mehr funktioniert. Aber auch gerade in der Zeit glaube ich, wenn Leute gerade frisch aus dem Krankenhaus kommen, müsste man die auch einfach besser auffangen, denke ich. Gerade auch bei der Arbeit.
Angy [00:23:12] Wie war das denn für dich, dass du nicht mehr arbeiten konntest? So fast von heute auf morgen, wenn man es mal so ein bisschen übertreibt.
Jule [00:23:20] Ja, ich war halt kurz davor. 2015 im August wurde mir gesagt: „Okay, 2016 kriegst du deine eigene Filiale, als Filialleiterin.“ Ich hatte in dem Unternehmen angefangen als Stundenlöhner, so drei Stunden die Woche. Und dann hat man noch so um jede Stunde gebettelt, dass man noch ein bisschen Geld dazu kriegt und ich war dann mittlerweile Abteilungsleiterin und es hieß: „Okay, 2016 kriegst du deine eigene Filiale.“ Es hieß so: „Ja, in welchem Umkreis könntest du dir vorstellen zu fahren?“ und so. Also über solche Sachen haben wir schon gesprochen und urplötzlich war ich dann nicht mehr arbeiten. Dann war es erstmal so: „Na ja, ich bleib mal erst mal zwei Wochen zu Hause“ und dann „Nee, hat sich nichts verändert, vier Wochen.“ Und dann: „Okay, wir müssten mal drüber nachdenken, was wir jetzt stattdessen machen können.“ Ich habe da gesagt: „Okay, ich möchte gerne umschulen auf irgendwas, wo ich nicht mehr so körperlich tätig sein muss“, weil auch wenn ich Abteilungsleiterin war, bin ich unglaublich viel rumgewuselt, auch auf der Fläche und wahrscheinlich unglaublich viele Kilometer an so einem Tag gemacht. „Okay, ich mache jetzt irgendwas, wo ich sitzen kann“, aber das ist dann von jetzt auf gleich einen Menschen, der so aktiv ist, einfach extrem auszubremsen. Ich hatte Ideen in dieser Zeit… Also das wahnsinnigste war, dass ich mich beim Bund beworben habe.
Sven [00:24:41] Ja, das war zu der Zeit auch viel Panik, weil eigentlich wollte sie eine Umschulung machen, aber es hat alles nicht so funktioniert, auch von behördlicher Seite nicht.
Jule [00:24:50] Es hat einfach so lang gedauert.
Sven [00:24:51] Es hat alles sehr lang gedauert und es hat sich keiner so wirklich bemüht und auch gesagt: „Gut, sie ist ja noch jung. Wir gucken, dass wir sie wieder in Arbeit kriegen.“ Also es hat sich keiner so richtig gekümmert. Jule hat nebenbei sehr viel selbst gemacht, hat sich informiert, aber sagte dann: „Na ja, aber ich muss ja irgendwas anderes jetzt machen.“ Und dann hat sie sich in anderen Läden beworben, im Einzelhandel und beim Bund beworben, weil sie irgendetwas machen wollte. Das war für sie schlimm, ich kann mir das vorstellen. Das war ein Albtraum, plötzlich nicht mehr arbeiten gehen zu können. Und sie hat ja auch relativ viel investiert, dorthin zu kommen, wo sie dann auch stand, als Abteilungsleiterin und fast Filialleiterin. Da hat sie ja auch einiges für in Kauf genommen. Und das ist jetzt alles einfach von – das war tatsächlich mehr oder weniger – von heut auf morgen, weg und du sitzt dann zu Hause und starrst in die Luft. Ich hatte da auch Verständnis für. Ich habe das auch mehr oder weniger unterstützt. Also ich habe mich stark zurückgehalten, weil das musste sie auch mit sich selbst ausmachen, auch eine gewisse Akzeptanz, also irgendwann: „Ja, ne, Mist. Also das geht halt tatsächlich nicht mehr.“ Das war schon ganz spannend ab und zu. Es war auf jeden Fall spannend, als Außenstehender zu schauen. Was macht sie? Was hat sie für Ideen? Sie hat auch alles versucht, da irgendwie weiter am Ball zu bleiben. Aber am Ende blieb ihr nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass es da halt nicht mehr ging in dem Bereich.
Jule [00:26:18] Ich habe es auch hingekriegt. Jetzt ist er ist ganz stolz auf mich. Es hat nur ein bisschen gedauert.
Sven [00:26:23] Ja.
Jule [00:26:25] Heute kann man darüber lachen. Ich glaube, damals fand ich das echt nicht lustig.
Sven [00:26:29] Nein, nein. Das war es auch nicht.
Angy [00:26:30] Aber bevor wir gleich noch mal da gucken, Sven, wie war es denn für dich und wie ging es für dich auch beruflich nach der Diagnose weiter?
Sven [00:26:38] Beruflich hatte sich nichts geändert und genau dieser Fakt wurde dann irgendwann zum Problem. Ich war die meiste Zeit so zwischen 8 und 14 Tagen unterwegs, war zwei Tage zu Hause, manchmal auch drei und bin dann wieder weg.
Jule [00:26:50] Und wenn ich da mal reingrätschen darf – In den zwei, drei Tagen hat er meistens geschlafen.
Sven [00:26:55] Ja, genau, weil wir halt... Das ist jetzt auch kein 8-Stunden-Tag. Also aus arbeitsrechtlicher Sicht haben wir alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Also wirklich von morgens 7:00 Uhr bis abends 22:00, 23:00 Uhr auf der Baustelle und noch schlimmer teilweise. Also es war schon sehr kräfteraubend. Das habe ich erst mal weiter gemacht, aber irgendwann ging das nicht mehr. Ich hatte mich dann sogar so ein bisschen mit meinem Arbeitgeber angelegt, weil ich dann eine andere Priorität hatte. Also wenn ich dann die zwei Tage zu Hause war, brauchte mich auch keiner von denen anrufen, wo ich sage: „Also irgendwann ist auch mal gut“. Wenn du dann ständig das Telefon am Ohr hast, weil irgendeiner was von dir will, dann brauchst du auch nicht nach Hause fahren, also da kannst du auch nicht abschalten. Und das habe ich dann gewagt zu tun - Zu sagen: „Nee, jetzt bin ich zu Hause. Ich muss mich halt dann um die Freundin kümmern. Der geht es nicht gut.“ Das hat man halt irgendwann zum Anlass genommen. Dann ist mein Chef mal auf die Baustelle gekommen, ist mit mir lecker essen gegangen, hat mir ein Weinchen ausgegeben und hat mir erzählt, dass das Leben ja weitergeht. Ihm ging es auch irgendwie mal vier Tage schlecht, als sein Vater damals gestorben ist, aber das Leben geht ja weiter. Meine Gedanken dazu tue ich jetzt nicht kund, weil das wäre definitiv nicht jugendfrei. Es war ein bisschen schwierig und nach einer gewissen Zeit haben wir uns einfach überlegt, dass ich mir definitiv was anderes suchen muss, weil erstens wird man nicht jünger und zweitens was ist, wenn Jule dann doch mal wirklich mehr Hilfe braucht? Das war dann irgendwann der Punkt, wo wir gesagt haben: „Gut, ich such mir irgendwas, was nicht mehr ganz so zeitintensiv ist.“
Jule [00:28:32] Ich finde von außen – um das jetzt auch mal zu sagen – betrachtet, ist es ganz spannend zu sehen, dass Sven sich auch ganz krass verändert hat. Sven war – heute ist Freitag – Sven war am Mittwoch bei der Hautkrebsvorsorge und dieses Thema, das begleitet uns seit 2016. Es war nämlich ein Riesenstreitthema. Ich hatte ihm mal einen Termin dafür gemacht, weil ich sage: „Tu mir den Gefallen. Ich bin selbst krank und was das bedeutet und dann guck doch bitte lieber…“ Und dann habe ich ihm diesen Termin ausgemacht und stattdessen ist er arbeiten gefahren. Er hat nicht mal diesen Termin abgesagt. Ja, du lachst, ich finde es immer noch nicht lustig. Und das ist was, wo ich sage, das hat sich um 180 Grad gedreht. Mittlerweile sagt er: „Nein, die Priorität liegt nicht mehr auf dem Job. Die Priorität liegt darauf, dass ich ein gesundes und ausgeglichenes Leben führe.“ Das ist auch so als Außenstehende schön zu beobachten, was er da für sich mitgenommen hat. Nämlich zu sagen: „Ja, okay, der Job ist nicht alles.“ Und da kann man schon sagen, hatte die MS ja auch was Gutes, dass auch Sven sich wirklich verändert hat in dem Punkt.
Sven [00:29:54] Ja, das stimmt. Das ich richtig, ja. Das gebe ich auch zu.
Angy [00:29:59] Vielen Dank euch beiden für den tollen Austausch und wenn ihr, liebe Zuhörenden, wissen wollt, wie es bei Jule und Sven weiterging, dann hört gern in die zweite Folge rein, mit den beiden. Und dann erfahrt ihr, was sie dazu gebracht hat, ihr Leben auf den Kopf zu stellen und wie sie letzten Endes ihren Traum, zu reisen, verwirklicht haben. Viel Spaß beim Zuhören.
Vielen Dank, dass du uns heute zugehört hast. Du hast Anregungen, Themenvorschläge oder möchtest selbst Teil des Podcasts werden und deine Geschichte mit uns teilen? Dann schreib uns per E-Mail oder direkt auf Instagram. Im Beschreibungstext findest du alle weiteren Informationen und Adressen. Wir freuen uns auf dich.