Gliederung der Podcastfolge:
Angy [00:00:00] Herzlich willkommen zu „Sprich' aus! Bei MS“. Mein Name ist Angy Caspar und gemeinsam mit meinen Gästen sprechen wir in diesem Podcast über die Krankheit der 1000 Gesichter. Hör rein, wenn du mehr über ihre inspirierenden Geschichten und Erfahrungen zu dem Umgang mit der Erkrankung im Alltag erfahren möchtest. Denn bei MS kann man eine Menge machen. Viel Freude beim Zuhören!
Angy [00:00:32] Herzlich willkommen zu unserer neuen Folge von „Sprich's aus! Bei MS“. Ich freue mich sehr, dass ihr wieder mit dabei seid. In diesem Podcast sprechen wir über Themen rund um Multiple Sklerose, tauschen Erfahrungen aus und geben Tipps für das Leben mit MS. Ja, heute habe ich Martin Praast zu Gast und mit ihm habe ich bereits in der zweiten Folge unseres Podcast zum Thema „Krankheit der 1000 Gesichter“ gesprochen. Dieses Mal ist er nicht allein, denn er ist heute zusammen mit seiner MS Nurse Anna Stadtmüller hier, die ihn seit Jahren im Umgang mit seiner MS beratend und unterstützend zur Seite steht. Ich freue mich sehr, dass ihr beide euch heute die Zeit genommen habt, um Teil unseres Podcasts zu sein. Herzlich willkommen, liebe Anna, schön, dass du da bist.
Anna [00:01:20] Hallo, liebe Angy.
Angy [00:01:21] Und auch herzlich willkommen zurück, lieber Martin, schön, dass du wieder dabei bist.
Martin [00:01:26] Hallo!
Angy [00:01:28] Ja, liebe Anna, ich schlage vor, dass du mal beginnst, dich einmal bitte kurz vorzustellen.
Anna [00:01:33] Ja, mein Name ist Anna Stadtmüller. Ich bin 34 Jahre alt, von Beruf gelernte Arzthelferin. Heute heißt es ja Medizinische Fachangestellte. Mein Familienstand ist verheiratet mit einem Sohn, der jetzt fast eineinhalb Jahre alt ist und meine Hobbys sind – gute Frage. Neben der Arbeit und neben dem Mamasein bleibt mittlerweile wenig Zeit übrig, aber eine meiner größten Leidenschaften ist das Reisen.
Angy [00:02:00] Wie schön. Ich danke dir, Anna. Ja, Martin, dich kennen ja wahrscheinlich schon einige unserer Zuhörenden. Bitte stell dich doch für alle, die dich noch nicht in deiner ersten Folge gehört haben, auch kurz vor.
Martin [00:02:13] Alles klar. Ich bin Martin. Ich bin 49 Jahre alt, glücklich vergeben, wohne in der Nähe von Darmstadt, bin Medizininformatiker und meine Hobbys sind, kurz gesagt: das gute Leben. Bevor ich jetzt hier irgendwie zu viel verrate. Essen, kochen, aber auch draußen in der Natur sein, Mountainbike fahren. Und ansonsten habe ich MS seit 2017.Angy [00:02:36] Vielen Dank, Martin. Ja, und Anna, wie schon angekündigt, du arbeitest als „MS Nurse“ und dieser Arbeitstitel ist vielleicht nicht allen Zuhörenden ein Begriff. Deswegen erzähle doch bitte mal kurz, was eine MS Nurse ist.
Anna [00:02:51] Genau. MS Nurse ist ein sehr weiter Begriff. Und bei uns in der Praxis ist es so, dass ich das Bindeglied zwischen Patient und Arzt bin und immer zusammen mit dem Arzt auch die Gespräche mit dem Patienten zusammen führe. Ich bin Ansprechpartner, Begleiter und habe immer ein offenes Ohr für den Patient.
Angy [00:03:10] Vielen Dank! Wir kommen auch später auf jeden Fall auf das Thema noch zu sprechen, was da detaillierter deine Aufgaben sind und wie du überhaupt dazu gekommen bist, MS Nurse zu werden. Jetzt möchte ich gerne damit starten, was mich nämlich brennend interessiert – Wie habt ihr beiden euch kennengelernt? Und vielleicht fängst du mal an zu erzählen, Anna.
Anna [00:03:32] Ja. Wie haben wir uns kennengelernt? Natürlich in der Praxis. Nachdem der Martin bei meinem Chef war. An dem Tag war ich gar nicht in der Praxis, sondern an einem anderen Standort. Und dann kam mein Chef und hat gesagt: „Anna, ruf den mal an! Ich habe hier einen neuen Patienten mit einer Neudiagnose der Multiplen Sklerose, hilf ihm mal!“ Dann habe ich den Martin angerufen, der am Anfang irgendwie nicht so ganz begeistert war, dass er seine Geschichte jetzt noch mal jemandem erzählen muss und dann auch noch so einer MS-Schwester oder MS Nurse. Aber ich glaube, er hat schnell gemerkt, dass er mich braucht.
Angy [00:04:06] Okay.
Martin [00:04:06] Ja, zu dem Zeitpunkt noch nicht so richtig, das stimmt. Aber man muss dazu sagen, ich habe nicht von zu Hause aus angerufen, sondern ich bin gerade aus dem Arztzimmer rausgekommen und habe das Praxistelefon in die Hand gedrückt bekommen. Und dann hieß es: „So, jetzt möchte die Frau Stadtmüller noch mit Ihnen sprechen“ und dann musste ich alles noch mal erzählen.
Angy [00:04:23] Okay, vielleicht erzählst du doch mal kurz, Martin, aus deiner Perspektive, wie überhaupt so dieser Erstkontakt zustande gekommen ist.
Martin [00:04:33] Ich war beim Neurologen, nachdem ich gerade einen Tag aus dem Krankenhaus entlassen war, wegen der Therapie meiner MS und dem habe ich wieder alles vorgetragen, was man in den zwei Wochen Krankenhaus schon 100-mal erzählt hat, was alles passiert ist. Und er hat gesagt: „Kein Problem, wir machen eine Therapie.“ Und habe ich gedacht: „Gut, der gibt mir jetzt ein Rezept und ich darf gehen“, aber nein, ich durfte nicht gehen. Ich bekam das Telefon in die Hand und da war die Anna dran und sagte: „Ja, also wir haben jetzt am Donnerstag einen Termin und ich nehme mir zwei Stunden Zeit für Sie, damit ich Ihnen genau zeigen kann, wie die Therapie funktioniert. Da können wir alle Fragen besprechen.“ Und ich dachte eigentlich: „Och, ich habe gar keine Fragen mehr.“ Ich wollte jetzt diese Spritzen haben, die sie mir einfach geben, weil ich Diabetiker bin und auch wusste, wie das funktioniert. Und ich habe gedacht: „Da musst du jetzt mit der Frau eigentlich gar nichts mehr reden. Du kannst nach Hause gehen und das machen.“ Und dann hatte ich aber den zwei-Stunden-Termin bei ihr und den habe ich auch gebraucht, die zwei Stunden, ja.
Angy [00:05:29] Jetzt hat Martin gerade erzählt, wie das aus seiner Perspektive gelaufen ist. Anna, wie entsteht denn, wenn man überhaupt so was sagen kann, „normalerweise“ so der Erstkontakt mit Patienten aus deiner Sicht?
Anna [00:05:42] Genau. Also entweder entsteht der Kontakt, wie Martin das auch gerade beschrieben hat, oder ich bin an diesem Tag mit dem Arzt zusammen am gleichen Standort. Weil wir einfach mehrere Standorte haben, wechsle ich diesen manchmal und dann würde ich quasi den Patienten direkt aus dem Arztgespräch-Zimmer mit in mein Zimmer nehmen und würde dann den weiteren Weg mit ihm planen, ihn da auffangen, wo er gerade steht. Am ersten Tag würden wir natürlich noch nicht so viel besprechen, weil irgendwann kann man natürlich auch nichts mehr aufnehmen und dann wie bei Martin einfach für eine Woche später einen Termin ausmachen, wo der Patient auch seine Fragen mitbringt oder die Patientin und vielleicht auch einen Partner oder Partnerin und wir dann den Weg, den wir gehen, gemeinsam besprechen.
Angy [00:06:23] Ja genau, Martin, du hast schon kurz erzählt, da habe ich jetzt so wahrgenommen, dass du ein bisschen überrumpelt wurdest. Du warst in der Praxis, dann wurde dir das Telefon rüber gereicht und du hast erfahren, dass es da noch ein persönliches Gespräch geben wird. Genau. Ich freue mich, wenn du mal erzählst, wie dann eure erste persönliche Begegnung war.
Martin [00:06:42] Ja, also ich habe natürlich überlegt, was ich da eigentlich soll, und dann hatte ich auch wirklich ein paar Tage Zeit und in denen setzte sich das. Dann habe ich mir wirklichen einen Zettel gemacht, auf dem so draufstand, was ich jetzt noch für Fragen an meine Krankheit eigentlich habe. Den Zettel habe ich mir jetzt nochmal rausgesucht und draufgeguckt und es geht wirklich hauptsächlich darum: Was kann ich überhaupt selber tun und was tut Anna für mich? Weil ich hatte keine Vorstellung. Und dann bin ich da hingegangen und habe sehr, sehr ausführlich das mit den Spritzen erklärt bekommen. Hätte ich jetzt so ausführlich nicht gebraucht. Also ich habe eigentlich immer nur drauf gewartet, dass ich diese Spritze bekomme und sie mir da vor ihr in den Bauch ramme. Und als wir das erledigt hatten, hat sie dann auch gefragt, wie das überhaupt alles gelaufen ist bei mir bisher im Krankenhaus. Das war der Schlüsselmoment, weil ich habe dann gesagt: „Ja, das war so und so, dann habe ich Medikamente bekommen, es hat nicht funktioniert und man hat es wieder abgesetzt.“ Und da hat sie gesagt, ganz spontan: „Oh, das ist aber scheiße.“ Und da habe ich gedacht: „Ach guck, das erste Mal, dass dir jemand hier nicht professionell empathisch begegnet und sagt: 'Oh ja, also das kriegen wir alles schon wieder hin und machen Sie sich keine Sorgen', sondern die sagt wirklich, das war nicht gut.“ Und da habe ich gedacht: „Na ja, du weißt nicht, was du mit ihr anfangen sollst, aber sie ist ehrlich. Also behältst du sie mal, vielleicht ist es ja irgendwie wichtig“, und dann hat sie am Ende gesagt: „Sie kriegen auch meine Handynummer“, und da habe ich gesagt: „Joa, keine Ahnung. Könnte nützlich sein, ich weiß es noch nicht.“ Und dann bin ich da nach zwei Stunden wieder raus und habe gedacht: „Ja, weißte jetzt auch nicht so genau, du hast ja einen Neurologen, das reicht dir eigentlich“, aber ich habe sie dann sehr, sehr gebraucht, ja!
Angy [00:08:14] Okay. Das heißt aber auch nach dem ersten Treffen war dir noch nicht so richtig bewusst, was jetzt so der Mehrwert für dich sein könnte? Habe ich das so richtig verstanden?
Martin [00:08:22] Überhaupt nicht. Null. Der Mehrwert wurde mir erst dann ganz bewusst, als ich zum ersten Mal zu meinem Hausarzt ging und ein Rezept für „Krankengymnastik ZNS“ haben wollte. Das haben die nicht hingekriegt. Die wussten nicht, was Krankengymnastik ZNS ist. Also die haben mir dann das Rezept für Krankengymnastik geschrieben. Ich bin zur Physiotherapie gegangen, die haben gesagt: „Es ist alles falsch ausgefüllt. Das geht so nicht. Das müssen Sie noch mal bringen.“ Ich bin noch mal hingegangen und die haben gesagt: „Das können wir gar nicht anders ausfüllen, das geht nicht, wir wissen nicht wie.“ Und dann haben sie darauf rum gekrakelt und der Physiotherapeut hat wieder gesagt: „Nee, das geht so nicht.“ Irgendwie bin ich dann dreimal zum Hausarzt gefahren und habe ich echt die Nerven verloren. Dann habe ich bei Anna angerufen und gesagt: „Hier. Die bekommen das nicht hin. Kannst du ein Rezept KG ZNS schreiben?“ – „Ja, natürlich.“ Und da musste ich auch gar nicht für in die Praxis kommen, sondern habe es tatsächlich zugeschickt bekommen, also der totale Luxus. Da habe ich schon gedacht: „Oh, das funktioniert alles viel einfacher als beim Hausarzt.“ Beim ersten Kontrolltermin hat sie dann am Ende gefragt: „Kann ich noch was für Sie tun?“ Und da habe ich gedacht: „Oh, das bist du beim Arzt noch nie gefragt worden.“ Also sonst beim Hausarzt sagen vorne immer alle am Tresen: „Nein, geht nicht, können wir nicht, haben wir noch nie so gemacht.“ Und sie hat dich jetzt gefragt: „Kann ich noch was für dich tun?“ Da habe ich wirklich gedacht: „Das ist dir eine große Hilfe. Das wird die irgendwie in der MS, die echt kompliziert ist, weiterhelfen.“
Angy [00:09:49] Vielleicht noch zur Vervollständigung: Du hast gerade von Krankengymnastik ZNS gesprochen – vielleicht kannst du noch kurz aufklären, wofür das ZNS steht.
Martin [00:10:00] Genau, für zentrales Nervensystem. Ja, das ist ganz wichtig.
Angy [00:10:03] Ah, genau.
Martin [00:10:03] Weil da kriegt der Physiotherapeut vielleicht 3,20€ mehr die Stunde und weiß, was er mit dir anfangen muss.
Anna [00:10:09] Und er kann mehr Minuten machen.
Angy [00:10:11] Ich wollte das gerne abklären, für alle die, die nicht wissen, was eben ZNS ist. Liebe Anna, wie hast du denn euer erstes Treffen in Erinnerung?
Anna [00:10:21] Ja, also wie Martin schon sagte, er war natürlich sehr ungeduldig und wollte wirklich einfach Spritzen. Und ich war dann sehr überrascht, dass es ein Mann ist, der freiwillig hier sitzt und sagt: „Den Autoinjektor möchte ich nicht benutzen. Ich mache das einfach so.“ Manchmal bin ich dann auch mal sprachlos, aber das kommt sehr selten vor. Auf jeden Fall war Martin da schon sehr proaktiv. Er will was tun, er will was machen, was natürlich sehr gut ist auch gerade bei der Erkrankung. Ich habe schon auch gemerkt, dass er nicht weiß, dass er mich mal brauchen wird. Aber ich dränge mich natürlich auch niemandem auf. Von daher muss man die Patienten dann manchmal auch erstmal laufen lassen und irgendwann kommen die dann schon zu mir zurück und wissen, wofür ich gut bin, sozusagen. Genau und mir eilt natürlich mein Ruf voraus, dass ich natürlich manchmal sehr schnell bin, mit dem, was ich sage, bevor ich drüber nachdenke, was natürlich viel Ehrlichkeit und auch Intuition oder einfach Offenheit und Authentizität bedeutet. Deswegen auch mein Satz mit „Das ist aber Mist oder Scheiße“, weil es einfach auch wirklich so war. Das musste man einfach auch, glaube ich, mal sagen, dass Martin sich abgeholt fühlt und weiß, dass er einfach nicht alleine ist mit dem, wie er es wahrscheinlich in dem Moment empfunden hat.
Martin [00:11:37] Genau, das ist ganz wichtig, dass jemand überhaupt einen dann auch versteht. Also dass man nicht das Gefühl hat, alle fertigen einen mit den gleichen Worthülsen ab, sondern irgendjemand sagt: „Okay, ich habe jetzt genau dich und deine Erkrankung verstanden und ich bin für dich da. Irgendwas können wir machen.“
Anna [00:11:54] Genau.
Angy [00:11:55] Jetzt hatte ja Martin auch schon gesagt, dass er sich relativ schnell doch wieder an dich gewandt hat. Weißt du noch, wie lange das gedauert hat und wie es dann mit eurer Patienten – wie nennt man das – Patienten-MS Nurse-Beziehung weiterging?
Anna [00:12:11] Also das hat gar nicht lange gedauert, bis er sich bei mir gemeldet hat. Ich habe zwar die Zeitabstände jetzt nicht im Kopf, aber ich habe heute Morgen noch mal in die Akte geschaut und gesehen, dass wir innerhalb der ersten vier Monate wirklich sehr, sehr regelmäßig im Kontakt waren und da wirklich auch viel geredet haben. Und ich natürlich nicht nur da bin, um Rezepte auszustellen, sondern auch die Fragen rund um die Erkrankung zu klären und ihm da einfach bei der Krankheitsverarbeitung zu helfen. Ihm zu helfen, wie er damit umzugehen hat und was er noch alles tun kann seitens Sport, Ernährung, Angehörige und so weiter. Irgendwie haben wir auch sehr schnell festgestellt, dass wir uns wirklich sehr sympathisch und empathisch finden, hatten dann auch privat Kontakt und sind mittlerweile wirklich auch befreundet, treffen uns regelmäßig mit unseren Partnern und essen ein schönes Stück Fleisch zusammen. Ja, genau.
Angy [00:13:03] Wie schön.
Anna [00:13:03] Das ist natürlich nicht immer so! Nicht mit jedem Patienten treffe ich mich privat, aber mit Martin war das schon irgendwie was Besonderes von Anfang an.
Martin [00:13:11] Ja, wir haben uns wirklich gut verstanden gleich. Das hat man gemerkt. Ich war aber auch richtig verzweifelt, muss man sagen. Also ich hätte jetzt alles, was sie gesagt hätte, getan. Die ersten vier Monate waren eine wilde Achterbahnfahrt mit Medikamenten, die nicht funktioniert haben, mit eingeholten Zweitmeinungen und Schüben auch, die dann kamen. Wo ich gar nicht wusste, was passiert. Wenn man wissen will, wofür eine MS Nurse gut ist – man hat einen Schub und braucht so schnell wie möglich ein MRT-Bild, dann ruft man beim Radiologen an und der sagt: „Der nächste Termin ist in zwei Monaten.“ Dann habe ich Anna geschrieben und habe gesagt: „Also hier, ich brauche jetzt eigentlich einen MRT-Termin“, dann hat sie gesagt: „Kein Problem, kannst du morgen nach Aschaffenburg fahren und nimmst ein paar Tüten Gummibärchen mit? Ich kenne da jemanden, die schulden mir noch einen Gefallen“, und dann hatte ich am nächsten Tag ein MRT-Termin. Dafür ist eine MS Nurse gut.
Angy [00:14:03] Wow. Unabhängig von all diesen Dingen, die du jetzt schon gesagt hast, die Anna für dich gemacht hat, was bedeutet es denn überhaupt für dich, Anna als MS Nurse an deiner Seite zu haben?
Martin [00:14:15] Also da sage ich eigentlich immer das Gleiche, da sage ich: „Sie macht eine schwere Erkrankung einfach“. MS kann sehr kompliziert sein, weil man ganz viele Sachen auch drumrum hat, verschiedene Therapien, Physiotherapie, Ergotherapie, man braucht viele Medikamente, man hat Arzttermine, man hat viele Befunde, Laborkontrollen. Und wenn man da jetzt allein gelassen wird, ist man die ganze Zeit nur im Organisieren. Wenn man aber jemanden hat, der sagt: „Hier, du brauchst jetzt hier eine Kontrolle und brauchst den Termin hier und du brauchst eine Impfung da.“ Da ist man schon sehr aufgefangen und man bekommt auch ganz viel abgenommen. Wenn man hilflos ist, was man ja auch manchmal ist, gerade am Anfang, hat sie immer eine Idee. Also ich habe oft dagestanden und gesagt: „Ich weiß nicht weiter, ich habe das Gefühl, es geht immer nur Berg ab.“ Und dann reagiert sie aber auch. Das heißt, sie hat gesagt: „Ja, okay, wir holen eine Zweitmeinung. Da kannst du hingehen“, und das hat sehr geholfen. Sie hat mir die Psychotherapie empfohlen, was ich von allein nie gemacht hätte. Und da gibt es halt ein ganz breites Spektrum, von dem man selber natürlich als Patient am Anfang überhaupt keine Ahnung hat, was einem so helfen könnte. Und da ist sie sehr, sehr wertvoll.
Angy [00:15:25] Und wie viel hast du denn auch durch Anna über die Erkrankung selbst gelernt?
Martin [00:15:29] Also das habe ich mir mehrheitlich ehrlich gesagt selber angelesen. Da bin ich dann schon immer mit meinem Wunschzettel in die Praxis gelaufen. Da stand drauf, was ich alles haben wollte und ich hatte gar nicht so viele Fragen zur Erkrankung selbst. Es hat sich dann eigentlich von selbst ergeben, dass man sich das irgendwie anliest im Internet. Ich habe sie eigentlich wirklich immer „nur“ gebraucht, um meinen Wunschzettel zu erfüllen. Das heißt, da steht drauf, ich hätte gern Rezepte hierfür, dafür, ausgedruckte Befunde. Und wie geht es weiter? Wann muss ich zur nächsten Kontrolle? Termine? Ja, dann haben wir uns natürlich auch zwischenzeitlich mehr über Essen und andere Leute unterhalten, auch Lästern genannt. Und dann kippten so langsam diese Termine von Krankheitsbewältigung in private Unterhaltungen. Und das war auch sehr schön.
Angy [00:16:24] Das ist ja auch eine seelische Unterstützung, die da sehr oft, glaube ich, auch helfen kann.
Anna [00:16:28] Was ich zu dem Ganzen noch anmerken möchte ist, dass natürlich alle Entscheidungen mit meinem Chef und mit den Ärzten abgesprochen sind und natürlich nie ich als MS-Schwester sage: „Der Patient muss ins MRT“, sondern da immer vorher Rücksprache mit dem Arzt gehalten wird und der Arzt natürlich den Patienten auch immer sieht bei den Terminen. Das wird nicht einfach so durch mich entschieden, sondern das ist mit Absprache des Arztes, der da immer mit dabei ist. Nicht, dass da draußen jetzt jemand denkt, das läuft irgendwie anders. Da ist immer der Arzt mit dabei, weil der entscheidet, der muss alles unterschreiben und muss es absegnen. Und ich bin ja quasi nur der Unterstützer, der dazwischensteht, in diesem Dreiergespann von Patient, Arzt und MS Nurse.
Angy [00:17:10] Vielen Dank noch für diese Ergänzung. Ich hatte ja vorhin schon mal angesprochen, dass wir noch mal auf das Thema zu sprechen kommen, was du genau machst als MS Nurse. Jetzt haben wir ja auch schon einige Dinge gehört, die ihr beide genannt habt. Dennoch möchte ich da gerne nochmal ins Detail gehen und dass du vielleicht noch ein bisschen erzählst, Anna, was da alles so genau deine Aufgaben sind?
Anna [00:17:31] Also nachdem der Patient durch den Neurologen oder durchs Krankenhaus die Diagnose gestellt bekommen hat, fange ich den Patienten da ab, wo er steht, und versuche nochmal die Diagnose in eigenen Worten zu erklären und vor allem auf 'patientisch'. Dass ich den Patienten wirklich mit bildlichen Beispielen abhole – zum Beispiel Anfressen von Stromkabeln, das Netzwerk funktioniert nicht mehr richtig, die Weiterleitung vom Hirn bis runter ins Rückenmark funktioniert nicht. Also bildlich nochmal zu erklären, so dass man es wirklich versteht und ohne große Fachbegriffe. Ich gebe dem Patienten natürlich auch Infomaterialien an die Hand. Habe dann meistens so ein Buch, da sind große Bilder drin und ich erkläre das Ganze: Was ist denn MS? Was passiert da im Hirn und im Rückenmark? Was hat es für Auswirkungen? Ich erkläre dem Patienten die Symptome, die alle auftreten können und auch wie sich ein Schub definiert. Dann geht es weiter zur Therapiebesprechung. Der Arzt sagt dann schon, welche Therapien zur Auswahl stehen bei dem Patienten und ich erkläre dem Patienten dann, wie die Wirkweise ist, wie die Anwendungsart ist, wie er das Medikament anzuwenden hat. Also sei es orale Einnahme, seien es Spritzen, seien es Infusionen. Was stehen denn da dann auch für Kontrollen an? Also zum Beispiel, wenn man Flugbegleiter ist, würde in meinen Augen eine Spritzentherapie rausfallen, weil der dann ständig unterwegs ist und das Medikament meistens gekühlt werden muss. Also dass wirklich auch die Therapie, die der Patient am Ende zusammen mit dem Neurologen auswählt, in seine Lebenssituationen und sein Leben passt. Denn nichts ist schlimmer, als wenn ein Patient einem Medikament zustimmt, bei dem er nicht dahintersteht. Und am Ende wendet der Patient das Medikament nicht an, weil er nicht dahintersteht, es nicht zu seinem Leben passt oder er vielleicht mit den Nebenwirkungen nicht klarkommt. Da bin ich dann auch Ansprechpartner, wenn der Patient zum Beispiel irgendwelche Nebenwirkungen auf das Medikament hat, dass wir da gucken: Wie können wir die beheben? Was gibt es noch für Tipps und Tricks, die ich dem Patienten mit auf dem Weg geben kann, um damit besser klarzukommen? Und dann gebe ich dem Patienten noch Aufklärung zu begleitenden Therapien, also was kann er nebenbei noch machen? Sowas wie zum Beispiel Physiotherapie – manche kennen es auch unter Krankengymnastik. Ergotherapie ist das, was man im Alltag gebrauchen kann, also zum Beispiel, dass die Motorik, Feinmotorik noch funktioniert und trainiert wird. Aber auch Hirnleistungstraining fällt unter die Ergotherapie. Es gibt auch eine Hippotherapie. Die wird allerdings nicht von allen Krankenkassen oder ich glaube noch kaum von Krankenkassen bezahlt. Also ist es wahrscheinlich eher eine Selbstzahlerleistung. Hippotherapie ist eine Pferdetherapie. Es kann natürlich auch sein, dass die Sprache oder das Schlucken beeinträchtigt ist. Dann würde man den Patienten zur Logopädie schicken. Und was ganz wichtig ist, ist auch die psychologische Komponente in der ganzen Geschichte der Krankheitsdiagnose und -verarbeitung, dass ich dem Patienten auch sage: „Hier, vielleicht ist manchmal auch die Lösung des Problems zu einer Psychotherapie zu gehen, um gewisse Sachen aufzuarbeiten“. Ich leite den Patienten auch an, dass er zum Beispiel, wenn er Blasenprobleme hat, auch mal eine Vorstellung bei einem Urologen macht, um das abzuklären. Denn natürlich da stehe ich dem Patienten immer mit Rat und Tat zur Seite und versuche ihm dann immer, wenn er mir irgendwelche Symptome oder irgendwelche Beschwerden berichtet, zu überlegen, was denn die Lösung ist, bespreche mich mit dem Neurologen und leite den Patienten an, was er zu machen hat. Ist aber auch in der Praxis bei uns wirklich ein Spezialfall, weil wir da, ich und meine Kolleginnen nur angestellt sind, um das mit den Patienten zu machen. Also das findet man leider nicht in jeder Praxis, weil wie du auch schon vorhin gesagt hast, ist es halt kein geschützter Beruf oder Begriff diese MS Nurse, MS Schwester, was ein bisschen schade ist und deswegen ist das wirklich eine Sonderleistung, die es bei uns in der Praxis gibt und dass wir da nur dafür eingestellt sind.
Angy [00:21:31] Okay. Und was ich noch spannend finde zu wissen, wie wird man denn überhaupt MS Nurse?
Anna [00:21:38] Ja, also wie wir schon gesagt haben, es ist kein geschützter Begriff. Man macht verschiedene Fortbildungen und Ausbildungen, entweder über so Pharmafirmen, die das dann anbieten oder es gibt auch eine größere Ausbildung, über die DMSG, also die Deutsche Gesellschaft Multipler Sklerose und natürlich über die Jahre hinweg, was man selber lernt in seinem Praxisalltag, auch durch die Ärzte. Es gibt auch noch eine weitere Ausbildung, was sogar eigentlich fast ein Studium ist über die Uni Dresden.
Angy [00:22:12] Okay, was hat dich denn dazu bewegt, diesen Beruf auszuführen?
Anna [00:22:17] Ich habe 2005 meine Lehre in der Neurologie, also auch in der niedergelassenen Praxis, angefangen und wurde dann 2008 aufgrund dessen, dass meine damalige Kollegin schwanger war und die damals bei uns in der Praxis die MS-Betreuung gemacht hat, bin ich da so reingeraten, schon in der Lehrzeit. Ich fand das Thema aber schon immer sehr spannend mit der Multiplen Sklerose, weil es auch viele junge Menschen betrifft, natürlich auch ältere Menschen. Und ich habe halt irgendwie meine Aufgabe darin gesehen, bei einer chronischen Erkrankung eine Unterstützung für den Patienten zu sein, um nicht zu sagen: „Die Krankheit hat mein Leben negativ verändert, sondern positiv.“ Ich kenne noch viele Patienten aus der damaligen Zeit, die heute immer noch sagen: „Ja, es hat mein Leben verändert, aber gerade auch dass da so eine Stütze mit einer MS-Schwester da war, hat es das eigentlich auch mitunter positiv verändert.“
Angy [00:23:11] Und was macht den Beruf für dich so besonders? Gibt es da vielleicht sogar was, was dich begeistert?
Anna [00:23:18] Ja, weil ich die Patienten natürlich über Jahre begleite, immer wieder Höhen und Tiefen durchstehe. Ich bin mit die erste, die meistens erfährt, dass ein Patient ein Baby bekommt, wenn Hochzeiten anstehen, wenn irgendwelche sonstigen Veränderungen anstehen. Es gibt bei uns so ein paar Aufgaben in der Praxis, dass ich sage, wenn man zur Infusion kommt und es ist eine nullte Infusion, muss man dem Praxispersonal einen Kuchen mitbringen. Genau, ich bekomme dann zu Weihnachten immer mal ein paar Socken gestrickt oder so was. Und was den Beruf für mich einfach auch als Herzensangelegenheit macht, ist diese Dankbarkeit, die die Patienten mir gegenüber und auch dem Arzt immer wieder rück spiegeln. Das sie froh sind, dass wir da sind und durch den Weg der Erkrankung eine Begleitung und Unterstützung für den Patienten sind.
Martin [00:24:09] Da muss ich kurz anmerken – Es kann nicht schaden, immer einen Kuchen mit in die Praxis zu bringen. Als Opfergabe für gestresstes Praxispersonal, also das ist nie falsch.
Anna [00:24:19] Ja, da hast du Recht, Martin.
Angy [00:24:23] Jetzt kann ich mir zumindest vorstellen, Anna, vielleicht ist es auch falsch, aber ich kann mir schon vorstellen, dass es da vielleicht mal so die ein oder andere herausfordernde Situation gibt oder gab, oder? Was motiviert dich denn dann, diese zu lösen?
Anna [00:24:40] Hm, ja, ich sehe immer das Positive an den schlechten Sachen, wie auch bei Martin: Das eine Medikament hat nichts gebracht. Ich muss sagen: „Das ist aber scheiße“, aber wir haben eine andere Lösung. Immer aus schlechten Sachen was Gutes ziehen. Das ist schon so meine Motivation, dass wir doch wieder einen guten Weg finden, um das Problem zu lösen.
Angy [00:25:04] Du hast eben auch schon erwähnt, dass es sozusagen eine klare Abgrenzung gibt zwischen dir und dem Arzt und dass alles unter Absprache mit ihm passiert. Dennoch wäre es schön, wenn du noch mal klar erläuterst, wo so die Abgrenzung genau liegt. Also zwischen deinen Tätigkeiten und denen von dem Neurologen.
Anna [00:25:25] Naja, ich mache auf keinen Fall irgendwelche Rezeptverordnungen. Entscheide nicht, welche Therapie der Patient haben wird, sondern unterstütze den Arzt und den Patienten einfach nur in dieser Findungsphase. Mein Chef bezieht mich da immer in die Gespräche mit ein und fragt auch nach meiner Meinung und nach meinem Bauchgefühl. Ich darf aber keine Medikamente verordnen, ich bin kein Arzt. Ich darf auch nicht sagen: „Da muss ein Physiotherapie-Rezept her“, sondern ich gebe einfach nur die Empfehlung und spreche mit meinem Chef darüber: „Hier, meinst du nicht, das würde was bringen?“ Wir sind auch per Du, meine Ärzte und ich. Und auch mit den meisten Patienten sind wir per Du, also bin ich per Du. Und… Ja, gerade schwierig, wie ich das erklären soll.
Martin [00:26:08] Sonst erkläre ich das. Ich kann das ganz einfach erklären. Man sitzt mit Anna im Sprechzimmer und erzählt seine ganzen Probleme, die man hat. Das kann auch relativ lange dauern, wenn es eine komplexe Lage ist. Dann sagt sie: „Okay, jetzt haben wir alles. Wir rufen den Arzt dazu.“ Es kommt der Arzt und sagt: „Hallo, wie geht's?“ und man sagt kurz, wie es einem geht. Dann gibt Anna ihm quasi einen Bericht, der zusammenfasst, was man ihr eben alles langatmig erzählt hat, in kurz, prägnant und für den Arzt wichtig. Und dann hat der Arzt sofort eine Vorstellung davon, wo meine Probleme sind und was er tun muss. Nur dass er es einfach in viel kürzerer, geraffter Form präsentiert bekommt und auch natürlich viel schneller entscheiden kann. Anna macht ihm dann einen Vorschlag oder er sagt: „Okay, ich würde das sagen.“ Dann bereden sich die beiden, was sie denken und am Ende hat man ein gutes Ergebnis.
Angy [00:27:00] Stimmst du dem zu, Anna?
Anna [00:27:01] Dem stimme ich zu. Genau.
Angy [00:27:03] Ich finde, ihr ergänzt euch ganz wundervoll. Anna, du hattest ja auch vorhin schon erzählt, dass du deine Telefonnummer auch rausgibst. Und jetzt frage ich erst mal dich, Martin, wie oft wird denn so diese, ja, diese private oder ich weiß ja gar nicht – private Telefonnummer, das ist jetzt von mir eine Unterstellung – aber wie oft meldest du dich denn dann da bei Anna auf dieser Nummer? Wie kann ich mir das vorstellen?
Martin [00:27:26] Nein, das ist die dienstliche Nummer, muss man sofort sagen. Also das ganze läuft schon auf einer freundschaftlichen Ebene ab. Am Anfang war es sehr formell, muss ich sagen, weil ich gar nicht genau wusste, wer mein Gegenüber ist. Aber wir haben ja relativ schnell gemerkt, wir haben einen guten Draht zueinander und dann läuft halt auch relativ viel Kommunikation einfach über WhatsApp. Das macht es sehr, sehr viel einfacher, als jemanden ans Telefon zu kriegen. Also im Praxisalltag ist es glaube ich sehr schwierig, da einfach immer alles zu unterbrechen, indem man jemanden anruft. Aber da kann man schnell schreiben und bekommt eine Antwort irgendwann, in ein paar Minuten, einer halben Stunde, das reicht ja auch und man hat aber das Gefühl, es ist immer jemand an der anderen Leitung der Strippe. Die private Telefonnummer, das weiß ich jetzt gar nicht. Ich weiß nicht mehr, wann ich die bekommen habe. Wahrscheinlich nach dem zweiten Weihnachtsgeschenk, weil sie sich so gefreut hat. Ich habe keine Ahnung.
Angy [00:28:21] Genau Anna, sag du doch mal. Also jetzt natürlich auf die dienstliche Nummer bezogen. Wie ist das da? Gibt es sozusagen bestimmte Vorgaben, also im Sinne von Zeiten, wann die Patienten sich bei dir melden dürfen? Oder ist es in Ausnahmefällen auch 24 Stunden am Tag? Wie genau funktioniert das genau?
Anna [00:28:41] Genau, also es ist wirklich meine dienstliche Nummer und Patienten bekommen meine private Nummer eigentlich nicht. Martin ist da wirklich eine der Ausnahmen. Die dienstliche Nummer ist auch wirklich zeitlich begrenzt, bedeutet: Wir sind von 08:00 bis 16:00 Uhr ungefähr erreichbar und alles, was danach passiert, wird auch erst am nächsten Tag von uns bearbeitet, weil es ist einfach auch noch ein Job. Es ist ja nicht mein Privatleben und ich bin ja auch nicht mit jedem Patienten befreundet. Wie gesagt, das mit Martin ist ja wirklich was Besonderes und da muss ich mich schon auch abgrenzen. Das mache ich auch. Es gibt dann schon auch Patienten, die das vielleicht unbewusst ausnutzen. Dann sage ich schon auch: „Meine Grenze ist bis dahin, es geht hier um was Geschäftliches sozusagen und nicht irgendwie um eine private Freundschaft.“ Und das mache ich dann schon, spreche das offen an und ziehe meine Grenzen damit. Das Einzige, wo ich wirklich auch nach der Arbeitszeit auf mein Handy gucke, ist dann, wenn der Patient in der Praxis irgendwie eine bestimmte Therapie bekommen hat. Dann ist es so, dass ich auch quasi 24 Stunden erreichbar wäre. Ausnahmsweise. Aber ich wurde noch nie benutzt.
Angy [00:29:54] Ah, okay. Das heißt, ich kann mir das so vorstellen: Du hast das Telefon dabei und guckst gelegentlich auch mal drauf, also auch nach 16:00 Uhr. Okay, aber -
Anna [00:30:02] Wenn ich weiß, dass was Besonderes gewesen ist, sonst nicht. Also sonst ist es ist wirklich so, da ist das Handy dann auch auf stumm geschaltet oder halt aus und am nächsten Tag wird es wieder angeschaltet.Angy [00:30:14] Okay und du, Anna, hattest ja vorhin schon erzählt, dass es irgendwie in eurer Praxis so was Besonderes ist, dieser Service, den ihr da bietet. Wissen vielleicht manche Patienten gar nicht, dass es diese Möglichkeit der MS Nurse überhaupt gibt?
Anna [00:30:29] Also bei uns in der Praxis wissen das eigentlich alle Patienten. Jetzt Patienten von anderen Praxen: Mal so, mal so. Der Punkt ist halt, wir können nicht abrechnen. Es gibt zum Beispiel Diabetes-Schwestern, die Ausbildung zur Diabetes-Schwester, die dürfen dann auch Gespräche mit Patienten und Handlungen über die Krankenkassen abrechnen. Da ist es natürlich so, dass es was anderes ist. Es gibt in Arztpraxen, oftmals, also in neurologischen Praxen immer mal wieder MS-Schwestern, gerade auch so zum Anleiten von Spritzentherapien. Dadurch, dass sich heutzutage die ganze Therapie geändert hat und es viel mehr Medikamente auf dem Markt gibt, ist es nicht mehr so wie es vor zehn Jahren mal war. Da durfte ich noch, da war ich nebenbei selbstständig über die Pharmaindustrie bei verschiedenen Firmen angestellt und durfte zu Patienten nach Hause fahren und da Schulungen zu Hause machen mit den Spritzentherapien. Das gibt es leider nicht mehr.
Angy [00:31:24] Okay.
Anna [00:31:25] Daher ist auch in den Arztpraxen der Beruf nicht „gesondert gemacht“, sozusagen.
Angy [00:31:33] Das heißt, ich höre jetzt so raus, dass jede Praxis selbst entscheidet, inwiefern sie eine MS-Schwester oder auch mehrere einsetzt. Ist das so korrekt?
Anna [00:31:42] Genau. Also ich mache ja zum Beispiel auch Vorträge für andere Patienten oder auch für MS-Schwestern und für Ärzte. Ich weiß, dass es in vielen neurologischen Praxen MFAs gibt, die spezialisiert sind auf Multiple Sklerose, aber die arbeiten ganz normal im täglichen Alltag in der Arztpraxis und sagen zwar dem Patienten dann schon: „Wenn Fragen sind, gerne zu mir kommen“, aber die haben nicht immer so eine Sonderanstellung wie bei uns.
Angy [00:32:07] Und ja, zwar Frage an euch beide, aber ich fang trotzdem nochmal mit Martin an. Du hast ja vorhin auch schon mal kurz erzählt, wie diese Dreierkonstellation funktioniert, also zwischen dir, Anna und im Endeffekt dem Neurologen oder der Neurologin. Gibt es denn da vielleicht noch was anderes, was du erzählen möchtest, was eben diese Dreierkonstellation für dich so besonders macht?
Martin [00:32:31] Ich wusste am Anfang ja gar nicht, wie das funktioniert. Ich war halt fasziniert davon, dass man meine Gefühle und meine Erlebnisse mit der Erkrankung… Also das war ja alles unsortiert. Ich wusste nicht, was ist ein Schub, was nicht. Und ich habe das wirklich Anna dann lang und breit erklärt und war fasziniert davon, wenn der Arzt dazu kam und dachte: „Ach guck, das, was du jetzt in zehn Minuten versucht hast wiederzugeben, kann man in zwei Sätzen zusammenfassen und der Arzt weiß sofort Bescheid, was dein Problem ist“, und kann sagen: „Ja, da können wir das tun oder jenes.“ Ich fand es immer sehr angenehm, weil ich nicht das Gefühl hatte, unter Zeitdruck zu stehen, weil der Arzt keine Zeit hat. Und ich hatte immer das Gefühl, ich bin verstanden worden, weil Anna hat dem Arzt das so zusammengefasst, dass der sofort verstanden hat, worum es geht. Das hätte ich vielleicht so nicht hingekriegt in meinen Worten. Man hatte immer das Gefühl, es wurde auch gut austariert, was ist jetzt nicht so wichtig, was ist dringend, was nicht. Und am Anfang hat man da kein Gefühl für. Also das ist ganz wichtig, dass man dann auch ein offenes Ohr hat und sofort durchgeleitet wird, was jetzt sofort bearbeitet werden muss oder wo man sich auch mit Zeit lassen kann.
Angy [00:33:44] Und Anna, was macht für dich die Besonderheit dieser Dreierkonstellation aus?
Anna [00:33:50] Ja, die Besonderheit ist einfach, wie Martin schon gesagt hat, ich fasse dem Arzt das zusammen. Natürlich hat der Patient auch die Möglichkeit, dem Arzt selbst zu erklären, was ansteht. Und ich finde halt das Gute: Man guckt von drei Ecken dann auf diese Erkrankungen oder auf das Problem. Alle drei haben natürlich eine andere Sichtweise. Es ist ja auch immer unterschiedlich: Wie herum stehe ich an der sechs? Sehe ich sie als neun oder als sechs? Dadurch kann man auch verschiedene Ideen haben und jeder hat auch so sein eigenes Bauchgefühl. Ich glaube, das macht schon auch viel aus, gerade auch für den Patienten, einfach diese verschiedenen Sichtweisen zu sehen. Auch wenn sich jetzt zum Beispiel ein Neurologe bei uns unsicher wäre, kann man dann immer noch einen anderen Neurologen dazu ziehen. Wir haben zehn verschiedene Ärzte in der Praxis und es gibt auch mal die Situation, dass wir dann mal zu viert oder zu fünft zusammensitzen mit dem Patienten und besprechen, wie der weitere Weg ist, wenn es etwas Kompliziertes ist. Gibt es ja auch mal, dass es nicht ganz glatt läuft in der Behandlung oder so.
Angy [00:34:53] Wie viel Aufwand oder Gesprächsbedarf besteht denn, sage ich mal, für dich in dem Zusammenhang zwischen dir und dem Neurologen, was jetzt einzelne Patienten angeht?
Anna [00:35:05] Kommt natürlich immer darauf an, in welcher Phase der Erkrankung wir da stehen. Wenn die Patienten jetzt zum Beispiel per Handy irgendeine Anfrage bezüglich ihrer Erkrankung schicken, dann kann ich das natürlich auch mal auf dem kleinen Dienstweg beantworten – Dann suche ich meinen Chef, frage ihn zu dem Patienten und kann dann dem Patienten auf kleinem Dienstweg sozusagen zurückmelden, was der Chef gesagt hat. Ich glaube, das ist auch schon ein großer Mehrwert für die Patienten, dass sie nicht wieder drei Monate auf einen Termin warten müssen, um eine Kleinigkeit zu besprechen, die vielleicht anstand. Genau.
Angy [00:35:36] Schön. Also das hört sich wirklich wie ein richtiger Glücksfall an für dich, Martin, dass du die Anna gefunden hast.
Martin [00:35:44] Ja, ist es auch. Also wenn man vorher gesund war, kennt man so seine Hausarztpraxis, weiß wie die funktioniert, und ich kenne vielleicht von meiner Diabeteserkrankung auch noch eine andere Praxis. Da weiß man, wie wahnsinnig kompliziert sowas sein kann, wenn man nur ein Rezept haben möchte und dafür also zwei, dreimal in die Praxis fährt. Und daran merkt man, wie super eine MS Nurse ist, die mitdenkt, einem wirklich alle Lösungen auf dem Silbertablett präsentiert und einem auch einfach ganz viel Zeit und Nerven spart.
Anna [00:36:14] Und das Schöne ist ja auch, dadurch, dass wir so viele Ärzte sind und ich dann meistens die Patienten mit den Ärzten zusammen sehe, das heißt, jeder Arzt oder jeder Neurologe, jeder Arzt, egal welches Fachgebiet sieht ja die Dinge, wie er sie sieht. Ja, wie es halt so ist. Ich kann ja dann wieder zehn verschiedene Sichtweisen auch mit in meine Erfahrung reinbringen. Ich glaube, das ist schon auch ein sehr großer Mehrwert für den Patienten und auch für die Neurologen. Die fragen dann manchmal auch: „Was würde mein Kollege jetzt machen, Anna?“ Dann sprechen wir auch mal so darüber und das bringt schon, glaube ich, sehr viel.
Angy [00:36:49] Wie lange machst du das jetzt insgesamt schon? Das haben wir, glaube ich, noch gar nicht geklärt.
Anna [00:36:53] Ja, seit 2008. Also jetzt schon wirklich sehr lange. Erschreckenderweise.
Angy [00:37:00] Wieso erschreckenderweise?
Anna [00:37:01] Naja, weil ich daran merke, wie alt ich langsam werde. Wenn ich überlege, ich habe das als 17-jähriges Mädchen quasi angefangen. Jetzt bin ich hier eine verheiratete Frau mit Kind und mache den Job immer noch, weil es einfach meine Leidenschaft, meine Berufung ist. Ich kann mir ehrlich gesagt auch wirklich gar nicht vorstellen, in eine andere Fachrichtung zu wechseln und was anderes zu machen. Ich stehe natürlich immer mal wieder vor der Entscheidung, in meinen Gedanken, weil ich auch einen großen Fahrtweg in die Praxis habe. Aber selbst jetzt nach meiner Elternzeit finde ich mich immer dort wieder. Also ich kann mein Herz nicht von der MS lösen.
Angy [00:37:36] Ich glaube, Martin, du wolltest gerade noch was zu sagen.
Martin [00:37:38] Genau, was ich sehr gut finde. Weil ich mache das ganze erst seit 2017. Zwar nur als Patient, aber ich bin sehr froh, dass ich seitdem Anna habe. Und es hilft mir sehr.
Angy [00:37:47] Das, was ich jetzt raus höre, ist auf jeden Fall ganz wundervoll, Anna, was du da leistest. Und ich glaube, das ist für alle, die auch jetzt zuhören und vielleicht auch am Anfang ihrer Erkrankung sind, sehr nützlich zu hören, dass es sowas überhaupt gibt. Vielleicht sind sie auch in deiner Umgebung und können auch deine tollen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Naja, das ist ja, ich höre raus, es ist einfach so eine seelische und moralische Unterstützung und das ist auch etwas, was ich finde und auch in allen Folgen schon rausgehört habe, einfach unheimlich wichtiges.
Anna [00:38:21] Auf jeden Fall, weil man wird ja wirklich als junger Mensch aus dem Leben gerissen mit so einer Diagnose. Das ist wirklich ein Schlag ins Gesicht, weil man denkt: „Jetzt ist alles zu Ende, ich habe jetzt eine chronische Erkrankung und jetzt kommt vielleicht bald der Rollstuhl.“ Leider ist dieser Gedanke ja immer noch in vielen Köpfen und da ist es wirklich wichtig, dass man an die Hand genommen wird und ein Weg aufgezeigt wird, den man gehen kann und da einfach einen Ansprechpartner und Begleiter hat.
Angy [00:38:48] Ja, und da sind wir auch schon fast am Ende. Ich möchte euch auf jeden Fall noch fragen, was ihr anderen Betroffenen oder vielleicht auch den Angehörigen, was ihr denen mit auf den Weg geben möchtet? Zum Thema MS Nurse. Martin, vielleicht fängst du mal an?
Martin [00:39:08] Also ich muss sagen, wenn eure Praxis oder euer Neurologe eine MS Nurse hat, behandelt sie gut, weil sie ist sehr, sehr wertvoll für euch. Auch wenn ihr am Anfang gar nicht wisst, was ihr damit anfangen sollt. Sie ist ein ganz, ganz wichtiges Bindeglied zwischen euch und dem Arzt und sie spart euch wirklich extrem viel Zeit, indem sie für euch da ist. Sie kann euch auch am Anfang gerade sehr, sehr gut auffangen, weil sie viele Probleme ganz schnell aus der Welt schafft, die ihr gar nicht begreifen könnt in dem Moment, weil euch einfach der Horizont dafür fehlt. Sie ist auch in jedem Fall immer eine seelische Unterstützung, weil sie schon ganz viele Patienten gesehen hat, die genau eure Erkrankung haben. Und sie hat einfach ganz viel Erfahrung und kann die auch gut umsetzen.
Angy [00:39:53] Ja, und da hat es sich offensichtlich auch gelohnt, diese ganze Geschichte noch ein weiteres Mal zu erzählen. Danke, Martin.
Martin [00:40:01] Ja, dafür hat es sich gelohnt, ja.
Angy [00:40:04] Anna, welche Tipps hast du gegebenenfalls noch für Betroffene oder auch Angehörige?
Anna [00:40:09] Genau. Also wirklich offen bei dem Neurologen auch mal fragen: „Gibt es hier in der Praxis eine MS-Schwester oder irgendwie jemanden, an den ich mich wenden kann? Oder arbeitet ihr vielleicht in der Praxis mit einer anderen MS-Schwester von außerhalb zusammen?“ Und wirklich offen mit dem Arzt auch ansprechen, wenn man Hilfe und Unterstützung braucht und wenn man einfach nicht mehr weiter weiß. Das wären so meine Tipps, würde ich sagen.
Angy [00:40:33] Ich danke euch erst mal ganz, ganz herzlich für den spannenden und auch informativen Austausch und es war ganz schön zu hören, wie gut ihr harmoniert. Und ich wiederhole es noch mal, aber es ist auch toll zu hören, Anna, dass du bei Martin, dass du da so eine gute Stütze für ihn sein kannst.
Anna [00:40:50] Danke.
Angy [00:40:50] Und wenn ihr noch mehr über Martin und seine Geschichte erfahren möchtet und das vielleicht noch nicht getan habt, dann hört doch gerne in unsere gemeinsame Podcastfolge 2 mit ihm rein – „1000 Gesichter bei MS“. Anna, vielen lieben Dank, dass du da warst.
Anna [00:41:06] Danke, dass ich dabei sein durfte.
Angy [00:41:08] Martin, schön, dass du noch mal dabei warst. Es hat mich sehr gefreut.
Martin [00:41:12] Danke, dass ihr noch mal zugehört habt.
Angy [00:41:16] Und wir hoffen, dass euch diese Folge gefallen hat und ihr wieder hilfreiche Tipps und Informationen für euch mitnehmen konntet. Und ich freue mich, wenn ihr beim nächsten Mal wieder rein hört bei einer neuen Folge von „Sprich's aus! Bei MS“.
Vielen Dank, dass du uns heute zugehört hast. Du hast Anregungen, Themenvorschläge oder möchtest selbst Teil des Podcasts werden und deine Geschichte mit uns teilen? Dann schreib uns per E-Mail oder direkt bei Instagram. Im Beschreibungstext findest du alle weiteren Informationen und Adressen. Wir freuen uns auf dich.