Gliederung der Podcastfolge:
Angy [00:00:00] Herzlich willkommen zu „Sprich's aus! Bei MS“. Mein Name ist Angy Caspar und gemeinsam mit meinen Gästen sprechen wir in diesem Podcast über die Krankheit der 1000 Gesichter. Hör rein, wenn du mehr über ihre inspirierenden Geschichten und Erfahrungen zu dem Umgang mit der Erkrankung im Alltag erfahren möchtest. Denn bei MS kann man eine Menge machen. Viel Freude beim Zuhören.
Angy [00:00:33] Herzlich willkommen zu unserer neuen Folge von „Sprich's aus! Bei MS“. Ich freue mich, dass ihr wieder dabei seid. In diesem Podcast sprechen wir über Themen rund um Multiple Sklerose, tauschen Erfahrungen aus und geben Tipps für das Leben mit MS. Ja, und heute ist Professor Dr. med. Dr. rer. nat. Sven Meuth bei mir zu Gast. Herzlich willkommen!
Prof. Meuth [00:00:55] Ja, hallo zusammen, ich freue mich, dabei sein zu dürfen.
Angy [00:00:58] Vielen Dank! Wir freuen uns auch sehr, dass Sie dabei sind und dass Sie sich die Zeit genommen haben, heute bei uns zu sein. In meiner Vorbereitung habe ich festgestellt, dass Ihre Titelkombination, ich würde sagen, sehr außergewöhnlich und vielleicht auch selten ist und kann mir vorstellen, dass unsere Zuhörenden auch interessiert, etwas mehr darüber zu erfahren. Bitte stellen Sie sich doch mal kurz vor.
Prof. Meuth [00:01:18] Ja, also mein Name ist Sven Meuth. Ich habe in der Tat erst Medizin studiert und später noch ein Aufbaustudium in Neurowissenschaften gemacht. Und da kommt der naturwissenschaftliche Doktortitel her. Das ist unter anderem Grund gewesen, warum ich in Magdeburg studiert habe und das Studium neben Magdeburg auch noch Aufenthalte in Dallas, Texas und in Basel in der Schweiz beinhaltet hat. Bevor ich dann am Ende des Studiums für die Facharztausbildung nach Würzburg zu Herrn Professor Toyka gegangen bin, dort die Facharztzeit gemacht habe, um dann wiederum mit Herrn Professor Wiendl zehn Jahre in Münster zu arbeiten. Eine sehr schöne und produktive Zeit, wie ich finde. Und dann bin ich mit einem Teil meines Teams von Münster nach Düsseldorf gegangen und hier bin ich jetzt Chef der Neurologischen Klinik seit Oktober 2020.
Angy [00:02:09] Vielen Dank für die kurze Vorstellung. Wir sprechen heute darüber, was bei Multipler Sklerose im Körper passiert, wie die vielfältigen Symptome der MS entstehen, welche Theorien es zur Entstehung der Erkrankung gibt und wie die Diagnose abläuft. Und an dieser Stelle auch schon einmal als Ankündigung für alle: Es wird mit Professor Meuth auch eine zweite Folge geben, die sich dann ganz auf das Thema Therapieentscheidung konzentriert. Mich interessiert jetzt als erstes, aus welchem Grund Sie sich auf die MS spezialisiert haben und was Sie genau an Ihrer Arbeit fasziniert.
Prof. Meuth [00:02:44] Ja, ich glaube, die MS ist eine sehr komplexe Erkrankung, weil auf der einen Seite das sehr kompliziert aufgebaute Immunsystem auf ein mindestens genauso kompliziert aufgebautes Nervensystem trifft. Da muss man sagen, entsteht ganz, ganz viel Komplexität und das macht die Erkrankung sehr spannend. Ich meine, ich bin verheiratet und habe selbst zwei Töchter. Das heißt also drei Leute in meinem Umfeld, die potenziell ja auch an der Erkrankung leiden könnten. Das ist auf jeden Fall jeden Tag Motivation, noch mehr Gas in der Forschung zu geben.
Angy [00:03:17] Aus welchem Grund ist es Ihnen denn wichtig, über MS aufzuklären? Zum Beispiel jetzt im Rahmen dieses Podcasts?
Prof. Meuth [00:03:24] Ich glaube, wenn wir Patientinnen und Patienten optimal behandeln wollen mit dieser Diagnose, dann müssen wir sehen, dass auch die Patienten einen möglichst guten Informationsstand bekommen. Denn ich glaube, die Diagnostik zur MS, aber auch die Therapie, hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert. Und einige Patientinnen und Patienten, die vielleicht sagen: „Ach, ich gehe schon gar nicht mehr zum Neurologen, da gibt es doch gar nicht so viel, was man machen kann.“ Die bedauere ich sehr, weil sie sich damit eben tolle Möglichkeiten nehmen. Ich glaube, je besser wir aufklären, je mündiger die Patientinnen und Patienten werden, desto mehr werden die Neurologinnen und Neurologen auch gechallenged für den jeweiligen Patienten die bestmögliche Therapie zu finden. Und aus diesem Grund haben wir auch hier im Team überlegt einen Info-Kanal, einen Instagram-Kanal, der @reinenervensache_meuth heißt ins Leben zu rufen, wo wir versuchen über aktuelle Neuerungen, aktuelle Paper hier aus der eigenen Arbeitsgruppe, aber auch was weltweite Forschung betrifft, die Patienten auf einem Niveau zu informieren, dass man sozusagen wirklich mit der Erkrankung am Puls der Zeit sein kann.
Angy [00:04:31] Und jetzt haben Sie ja gerade gesagt, aus Ihrer Sicht hat sich das Ganze in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert. Was genau meinen Sie denn damit?
Prof. Meuth [00:04:39] Na, ich glaube, wenn man überlegt: Wie war es 1990? Wie war es 2000? Und dann in den darauffolgenden Jahrzehnten – da sind wir, was die Diagnostik betrifft, viel besser geworden. Das heißt mit Verfügbarkeit, neue MR-Technologien. Ich sag mal, früher gab es nur 1,5-Tesla MRTs, heutzutage gibt es 3-Tesla MRTs. Es gibt insgesamt viel mehr Bilder und die Erkrankung ist auch mehr ins Bewusstsein der Leute gerückt. Ich kann Ihnen sagen, noch vor zehn, 15 Jahren musste man in Deutschland drei bis vier Schübe haben, damit jemand an die Diagnose einer MS gedacht hat. Und heute haben wir ja eigentlich das Ziel, schon mit dem ersten Ereignis die Diagnostik in diese Richtung durchzuführen und dann eben die Patientinnen und Patienten so früh wie möglich im Krankheitsverlauf zu detektieren. Um dann eben mit einer frühen Diagnose auch früh in eine Therapie einsteigen zu können und die Patientinnen und Patienten vor dem weiteren Fortschreiten der Erkrankung möglichst gut zu schützen.
Angy [00:05:38] Ich habe in diesem Podcast ja bereits mit vielen Betroffenen über ihre persönlichen Erfahrungen gesprochen und freue mich deswegen sehr, dass wir heute mit Ihnen einen Neurologen zu Gast haben, der uns die Krankheit aus medizinischer und fachlicher Sicht und somit aus einer ganz anderen Perspektive nochmal erläutern kann. Und deswegen mal aus Ihrem Mund. Multiple Sklerose: Wie würden Sie die Krankheit beschreiben und was passiert da genau im Körper?
Prof. Meuth [00:06:02] Bei der MS handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung. Das heißt, das Immunsystem löst eine Entzündungsreaktion gegen das sogenannte zentrale Nervensystem aus und das zentrale Nervensystem besteht aus Gehirn und Rückenmark. Und wenn Sie sich vorstellen, wie kompliziert die Funktionen des zentralen Nervensystems sind, also wie viele verschiedene Zelltypen dort zusammenarbeiten müssen, dann kann man sich vielleicht auch vorstellen, dass kleinste Störungen schon einen sehr großen Effekt haben können. Denn letzten Endes reguliert ja unser zentrales Nervensystem alles an Sensibilität, an Motorik, sozusagen die ganzen Körperfunktionen. Und das setzt voraus, dass beispielsweise die Nervenfasern sehr gut funktionieren, und die werden im zentralen Nervensystem von sogenannten Oligodendrozyten, also Zellen, die sozusagen eine Isolationsschicht um diese Nervenfasern bilden, deutlich reguliert und bei der Entzündungsreaktion kommt es zu einem Verlust dieser Isolationsschicht. Man nennt das auch Demyelinisierung. Und damit kommt es eben zu einem Funktionsverlust bestimmter neuronaler Netzwerke. Was bedeutet, dass die Reize von einer Nervenzelle zur nächsten Nervenzelle eben nur noch eingeschränkt weiterlaufen können. Generell werden die eher langsamer bei MS-Patienten durch das Fehlen der Isolationsschicht im Vergleich zum Gesunden. Oder aber wenn die Erkrankung weiter fortschreitet, kommt diese Weiterleitung gänzlich zum Erliegen. Und das erklärt auch, warum eben in den verschiedenen Verlaufsformen der Multiplen Sklerose sehr große Unterscheidungen gemacht werden können. In den Krankheitsstadien, wo es noch viel um diese Isolationsschicht geht, dass sie durch die Entzündungsreaktion abgebaut wird, aber durch den Körper auch in gewisser Weise wieder regeneriert werden kann, erklärt sich der schubförmige Verlauf. Das heißt also, dass bestimmte Bereiche remyelinisiert und dann auch wieder funktionstüchtig werden können. Je länger die Erkrankung fortschreitet, umso mehr geht dann die Nervenfaser selbst auch mit kaputt. Und wir nennen das dann entweder von der schubförmigen Verlaufsform hin zur sekundär chronisch progredienten Verlaufsform oder eben bei 10 bis 15% der Patientinnen und Patienten läuft dieser ganze Prozess primär chronisch: Das heißt, wir haben schon am Anfang dieses schleichende schlechter werden, was eben mit dem Verlust dieser Nervenfasern einhergeht. Und genau das ist das, womit wir uns jetzt auch wissenschaftlich mehr beschäftigen, dass wir neben der Verhinderung dieser Schübe, neben der Verhinderung der Entzündung, auch mehr und mehr versuchen, Strategien zu entwickeln, eine Remyelinisierung zu befördern oder aber auch die Nervenzelle selbst zu schützen.
Angy [00:08:50] Weiß man denn schon, welche Faktoren bei der Entstehung der MS eine Rolle spielen?
Prof. Meuth [00:08:56] Ja, also ich glaube, man muss ganz grundlegend sagen, es ist ein Zusammenspiel aus genetischen Faktoren und Umweltfaktoren. Und ich würde Ihnen gern ein Beispiel für genetische Faktoren geben. Wenn Sie eineiige Zwillinge betrachten und einer der beiden Zwillinge ist an einer Multiplen Sklerose erkrankt, dann hat der andere Zwilling ein vielfach erhöhtes Risiko, auch die Erkrankung zu kriegen. Das heißt also, bei einer gleichen genetischen Ausstattung ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dann auch eine MS zu kriegen. Auf der anderen Seite weiß man, dass es Umweltfaktoren gibt, die eine relevante Rolle spielen. So erwerben zum Beispiel Leute, die bis zum 16. Lebensjahr umziehen, das Risiko eine MS zukriegen von dem neuen Standort, wo sie landen. Wenn sie nach 16 umziehen, behalten sie das Risiko von ihrem Geburtsort. Das ist besonders relevant, wenn es zum Beispiel um Migration geht. Im Kontext: Jemand zieht aus dem Mittelmeerraum in den Norden Europas oder umgedreht. Das zeigt, dass neben der genetischen Disposition, wie man das sagt, also neben der genetischen Ausstattung, auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Und wenn da die richtigen zusammenkommen, die richtigen Umweltfaktoren, die richtigen genetischen Faktoren, dann führt das dazu, dass unser Immunsystem in gewisser Weise fehlgeleitet wird. Wenn Sie sich das überlegen: Unser Immunsystem ist ja eigentlich eine total tolle Erfindung, weil wir ja eigentlich von unserem Körper aus gegen nahezu alle Bakterien und Erreger gut geschützt werden. Das heißt also, dieses Immunsystem ist total breit, total effizient, total gut ausgebildet. Und wenn man jetzt überlegt: Auf der einen Seite will man den maximalen Schutz vor Bakterien, anderen Erregern, Viren und Würmern beispielsweise, darf es aber auf der anderen Seite auch nicht zu einer überschießenden Reaktion kommen. Und das ist eben genau das, was bei der MS passiert. Der Körper reagiert plötzlich, als ginge es um einen Eindringling, um einen Erreger, verkennt aber eine körpereigene Struktur mit diesem Erreger. Dadurch auch „Autoimmunität“. Also Immunität gegen das Selbst. Und das ist genau das Problem.
Angy [00:11:05] Es scheint sehr komplex zu sein und Sie hatten ja jetzt gerade auch schon erklärt, warum die Symptome der MS so vielfältig sind und sich auch von Person zu Person unterscheiden können. Dennoch ist immer so die Frage: Gibt es denn „typische“ MS-Symptome oder kann man davon generell gar nicht sprechen?
Prof. Meuth [00:11:25] Also generell liest man öfter, auch in den Lehrbüchern, die Erkrankung der 1000 Gesichter, was glaube ich dem Rechnung trägt, dass die Symptome sehr, sehr unterschiedlich sein können. Trotzdem kann man glaube ich sehr schön sagen, es gibt bestimmte Symptome, die gerade zum Beginn der Erkrankung häufiger auftreten. Da möchte ich gerne zwei benennen. Das eine ist die Sehnervenentzündung, das heißt, die Patientinnen und Patienten werden wach oder kriegen mit, dass sie plötzlich einseitig, wie durch Nebel sehen, dass sie bestimmte Farben, allen voran rot, nicht gut erkennen können und dass es hinter dem Auge zu Schmerzen kommt. Das heißt, wenn man im Raum herum guckt, beispielsweise, kommt es eben zu diesen Schmerzen. Das ist die Sehnerventzündung, eines der häufigsten Symptome gerade zum Beginn der Erkrankung. Und dazu gibt es noch häufig zu Beginn Sensibilitätsstörungen. Das heißt also, eine Einschränkung im Wahrnehmen von kalt/warm an bestimmten Körperregionen oder auch Berührungen anders wahrnehmen, als man das dann auf der vergleichsweise anderen Seite tut. Das sind oft die initialen Symptome. Wenn der Erkrankungsverlauf länger dauert, dann können eben weitere Symptome wie motorische Einschränkungen, beispielsweise beim Gehen, dazukommen oder auch Störungen der Blasenfunktion. Aber das kommt meistens eben erst im Verlauf der Erkrankung.
Angy [00:12:45] Okay, das heißt bei diesen Symptomen, die Sie jetzt gerade genannt haben, kann man schon davon sprechen, dass es „typische Symptome“ auf der einen Seite sind und auf der anderen Seite aber auch Symptome, die bei den meisten Menschen zuerst auftreten. Habe ich das so richtig verstanden?
Prof. Meuth [00:13:00] Absolut. Genau.
Angy [00:13:02] Dann ist es ja auch noch so, dass die Symptome der MS unterschieden werden, also zum Beispiel in sichtbare Symptome, wie die Gangstörungen oder Spastiken, und aber auch in unsichtbare Symptome, wie zum Beispiel Schmerzen, Fatigue oder auch kognitive Einschränkungen. Was glauben Sie denn: Finden die unsichtbaren Symptome Ihrer Meinung nach ausreichend Beachtung in der Gesellschaft?
Prof. Meuth [00:13:26] Das muss man leider mit Nein beantworten. Ich glaube, es liegt ein bisschen in der Natur des Menschen, dass man Symptome, die man sehr gut wahrnehmen und sehen kann, höher in ihrer Belastung für die Patientinnen und Patienten einschätzt als Symptome, die im Verborgenen ablaufen. Sie können sich das ja vorstellen, wenn man jetzt jemanden sieht mit einer motorischen Einschränkung, der nicht gut ins Auto kommt oder nicht gut die Treppe hochkommt. Das ist etwas, das nimmt die Leute mit, das bewegt. Wenn Ihnen jemand sagt: „Ich habe so eine chronische Erschöpfbarkeit“, also diese Fatigue beispielsweise, die Sie angesprochen haben, die können Sie nicht sehen. Und da ist es natürlich naheliegend, dass jemand sagt: „Naja, will der oder diejenige denn überhaupt richtig? Oder könnte er oder sie sich nicht mehr anstrengen?“ Ich glaube, man tut den Leuten extrem unrecht damit, weil natürlich eine solche wenig sichtbare Beeinträchtigung für den Alltag eine mindestens genauso starke Komponente haben kann, wie eine motorische Einschränkung. Vielleicht darf ich aber auch dazu sagen, dass von der Seite der Behandlerinnen und Behandler es auch oft so ist, dass man diese unsichtbaren Symptome nur ungern hört, weil die Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun, natürlich eingeschränkt sind. Also gerade die von Ihnen angesprochenen kognitiven Einschränkungen. Das ist etwas, was nicht einfach zu behandeln ist und auch eine Fatigue-Symptomatik ist extrem schwer in den Griff zu kriegen. Trotzdem wissen wir, dass Patientinnen und Patienten, die selbst noch nicht so lange krank sind, zu einem hohen Prozentsatz an diesen Symptomen leiden. Es hilft Ihnen auf der anderen Seite auch nichts, wenn Sie sehr gut motorisch unterwegs sind, aber kaum noch berufstätig, weil sie eben unter einer solchen Fatigue leiden, dass sie ihren Alltag gar nicht mehr bewältigen können. Wir haben nicht selten dann Patient:innen, die uns berichten: „Naja, ich kann noch auf die Arbeit gehen und kann den Job auch irgendwie noch erledigen, aber sobald ich zu Hause bin, muss ich mich hinlegen und schlafen bis die Arbeit wieder anfängt.“ Und da kann man sich vorstellen, damit ist natürlich die Lebensqualität nicht besonders gut.
Angy [00:15:28] Ist es denn so, dass die Patienten und Patientinnen, die zu Ihnen kommen sich das öfters dann so ein bisschen von der Seele reden, weil es eben so wenig Beachtung bekommt?
Prof. Meuth [00:15:41] Ja, also das kommt sicherlich auch sehr auf das soziale Umfeld der Patientinnen und Patienten an. Es gibt die mündigen Patienten, die um diese unsichtbaren Symptome wissen und diese dann auch offen ansprechen, weil sie eben informiert sind und wissen, dass durchaus 70% der Patienten diese einzelnen Symptome auch im Laufe der Erkrankung haben und sprechen sie dann eben aktiv an. Patientinnen und Patienten aus dem Umfeld, wo das Ganze wenig Raum einnimmt und wo vielleicht auch der Informationsstand niedriger ist, die sagen natürlich: „Naja, keine Ahnung, was mit mir passiert ist, aber die Leistungsfähigkeit ist weg“, würden es aber nie ansprechen. Und ich muss ganz klar sagen, es macht dann nochmal einen Unterschied, ob die Patientinnen und Patienten mit dem Arzt, der Ärztin sprechen oder auch zum Beispiel mit den MS-Nurses. Die MS-Nurses werden teilweise über viele, viele Jahre gekannt, mit einem guten Vertrauensverhältnis. Oft erzählen uns dann wiederum die Nurses: „Bei dem und dem Patienten bitte noch mal Nachfragen, nach zum Beispiel Fatigue oder kognitiven Einschränkungen.“ So kriegt man dann als Behandlungsteam meistens einen ganz guten Einblick für den jeweiligen Patienten.
Angy [00:16:52] Das hört sich jetzt für mich so an – bitte korrigieren Sie mich, wenn das falsch ist – dass es auch teilweise die Patienten selbst sind, die auf der einen Seite nicht ausreichend über diese unsichtbaren Symptome informiert sind und auf der anderen Seite vielleicht auch Hemmungen haben darüber zu sprechen.
Prof. Meuth [00:17:09] Da würde ich mich an einige Beispiele für beides erinnern können, ja.
Angy [00:17:14] Oftmals habe ich auch schon gehört, dass sich dann die Patienten und Patientinnen die Frage stellen: „Warum ausgerechnet ich?“ Ist es so, dass Ihnen diese Frage auch gestellt wird?
Prof. Meuth [00:17:25] Ja, also ich sage mal so: Der Mensch an sich neigt dazu, immer eine gewisse Kausalität herzustellen. Also: Was hat man falsch gemacht? Wie hätte man besser mit einer Situation umgehen können? Insofern gibt es diese Frage: Warum ich? Da ist es auch oft so, dass wir in unserem Alltag viel zu wenig Zeit dafür haben, solche grundlegenden Fragen zu beantworten. Und da ist es wieder wichtig, dass wir sehr gut informierte Patientinnen und Patienten haben, damit dann auch zum Beispiel Angebote zur Krankheitsbewältigung wahrgenommen werden können. Denn eins das ist ja sehr einfach nachvollziehbar: Wenn man sagt, eine Erstdiagnose dieser Erkrankung, die liegt irgendwo zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr, also unter Umständen in einer Phase, wo es noch um Ausbildung geht, wo es um Berufswunsch und -wahl geht, wo es um Familienplanung geht. Und plötzlich wird man damit konfrontiert, dass man, der bis heute immer ganz gesund war, plötzlich von einer chronischen neurologischen Erkrankung beeinträchtigt wird. Dass das, was die Krankheitsverarbeitung und den Umgang mit der Situation betrifft, höchste Anforderungen an die Patienten und Patientinnen stellt, ist glaube ich sehr gut nachvollziehbar.
Angy [00:18:32] Sie hatten ja gerade auch schon gesagt, dass Sie meistens nicht so wirklich die Zeit dafür haben, um ausreichend darauf zu antworten. Dennoch interessiert mich, was sie dann den Patienten dazu sagen?
Prof. Meuth [00:18:44] Also ich versuche den Patienten darzulegen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit in Deutschland ist an einer MS zu erkranken. Wie viele Patienten insgesamt in Deutschland erkrankt sind, nämlich schätzungsweise 250.000. Und dass es eben keiner Klärung einer Schuldfrage bedarf, was jetzt Verhaltensweisen betrifft, was beispielsweise Erbgänge betrifft, sondern dass es etwas ist, was jetzt unglücklicherweise zugetroffen hat, wie vielleicht auch bei anderen Erkrankungen. Dass aber der gute Ansatz der Nachricht ist, dass sich das, was man mit der MS verbindet, also vielleicht was auch an Patientinnen und Patienten berichtet wird, die vor 30 oder 40 Jahren erkrankt sind, dass das heutzutage nicht mehr eintritt oder nur noch sehr, sehr selten eintritt. Weil wir ganz neue Möglichkeiten zur Diagnose und Therapie haben. Also ich versuche dann bei dieser Frage so ein bisschen das Ganze ins Positive zu rücken, im Sinne von: Wir können etwas dagegen tun. Lassen Sie es uns zum einen akzeptieren oder Sie müssen es akzeptieren, aber auf der anderen Seite möchte ich Sie gerne wissen lassen, dass Sie mit der Diagnose eine sehr gute Chance haben, Ihre Ziele im Leben auch zu verwirklichen unter entsprechender Betreuung.
Angy [00:19:59] Ja, da kommen wir jetzt auch gerade noch mal so ein wenig auf das Thema von vorhin zurück, nämlich diese 20 Jahre, die Sie vorhin angesprochen hatten. Dass sich da viel geändert hat. Und deswegen ist hier meine Frage: Welche Theorien und aktuellen Erkenntnisse aus der Forschung gibt es denn noch zu den Ursachen, die zu MS führen? Weil so wie ich das bisher verstanden habe, scheint es ja nicht die eine Ursache zu geben. Sie haben vorhin auch schon erklärt, dass es sehr komplex ist und es eben eine Kombination aus mehreren Faktoren sein kann. Ist das so richtig?
Prof. Meuth [00:20:30] Ja, das ist so richtig. Ich hatte eben mit dem Beispiel des Umziehens vor oder nach dem 16. Lebensjahr so ein bisschen auf geographische Faktoren angespielt. Über die haben wir in den letzten Jahren einiges gelernt. Also gerade rezent auch Publikationen, Arbeiten, die Sonnenexposition und damit assoziierte Vitamin D-Spiegel hinsichtlich der Autoimmunität eine Rolle spielen. Wir haben gerade dieses Jahr herausragende Veröffentlichungen gesehen, dass bestimmte Viren, wie zum Beispiel das Epstein-Barr-Virus für das Auslösen der Erkrankung eine ganz relevante Rolle spielen. Die genetischen Faktoren habe ich besprochen. Wir haben dazugelernt, dass beispielsweise Rauchen ein Risikofaktor ist, der eine MS vom Verlauf her eher verschlechtert. Und genauso, dass Schübe auch durch einschneidende Lebensereignisse, Verlust eines Lebenspartners, Verlust von Familienmitgliedern, auch chronischem Stress, eine Verschlechterung erfahren können. Und insofern glaube ich, dass es eben viele Faktoren und viel Evidenz dafür gibt, was eine Rolle spielt. Dann muss jeder für sich überlegen, welche dieser Umweltfaktoren man im eigenen Leben vielleicht positiv gestalten will. Das hat auch zum Beispiel diesen ganzen Begriff der Ernährung. Also viele haben das mitgekriegt von den Hörerinnen und Hörern, dass wir ein Mikrobiom, einen Besatz von verschiedensten Bakterien im Darm haben und dass dieses Mikrobiom eine Rolle bei Autoimmunität hat. Und dass wir eben mit bestimmten Ernährungsstrategien dieses Mikrobiom in eine günstigere Richtung schieben als mit anderen Ernährungsstrategien. Da haben wir in den letzten Jahren gelernt, dass das, was man so als Western Diet, also hochkalorisch, hoch Fett, viel Salz, wie es eben in diesen Industrienationen mehr und mehr vorkommt, sicherlich einen schlechteren Impact auf Autoimmunerkrankungen haben, als wenn man sagt, man nimmt eine mediterrane Kost, also weniger Fleisch, viel Gemüse, ungesättigte Fettsäuren zu sich. Das heißt also auch hier kann jeder versuchen, einen kleinen Beitrag auch noch selbst zu leisten, neben den Therapien, die wir sozusagen verordnen können.
Angy [00:22:41] Wie ich auch schon von einigen meiner Podcast-Gäste gehört habe, kann es mitunter ja leider auch Jahre dauern, bis die MS diagnostiziert ist. Und Sie hatten ja vorhin schon gesagt, dass es da natürlich einen anderen Anspruch gibt. Aber wie wird denn die MS letztendlich diagnostiziert und aus welchem Grund gestaltet sich das bei einigen Patient:innen manchmal so schwierig und langwierig?
Prof. Meuth [00:23:10] Ja, also vielen Dank für die Frage. Die ist nicht ganz so einfach, wie sie klingt. Prinzipiell versuchen wir, ich sage es jetzt einmal „auf schlau“ sozusagen. Prinzipiell versuchen wir eine Dissemination in Ort und Zeit zu finden. Was heißt das? Wir versuchen eine Verteilung der Herde einmal nach dem Ort und einmal in der Zeit zu bestätigen. Wenn Sie sich das jetzt vorstellen - Es hat jetzt ein Patient, eine Patientin eine Sehnervenentzündung auf dem rechten Auge. Ich sage mal vor zwei Jahren. Dann weiß man, es ist das rechte Auge betroffen und es ist zwei Jahre her. Jetzt stellt sich dieselbe Patientin oder derselbe Patient wieder vor und spricht über eine Sensibilitätsstörung im linken Bein. Dann weiß man, diese Ereignisse sind zeitlich versetzt aufgetreten, nämlich vor zwei Jahren und jetzt. Und man weiß, es muss mindestens zwei Orte geben, die von dieser Entzündung betroffen sind, weil das eine Richtung Auge geht und das andere eine Struktur im Gehirn oder im Rückenmark betrifft, die das linke Bein beinhaltet. Jetzt muss man aber eine Sache noch dazusagen: Nicht jeder Herd, nicht jede neue Entzündungsläsion macht auch ein neues Symptom. Das heißt, es gibt so eine Daumenregel, sechs bis zehn Herde im MRT machen einen neuen Schub. Und wenn man jetzt rein auf diese klinische Präsentation guckt, was man viele, viele Jahre getan hat, auch in Ermangelung an Alternativen. Dann kann es sein, dass mittlerweile schon zehn oder 15 neue Herde entstanden sind, bevor das zweite Symptom entsteht, um die Diagnose stellen zu können. Und deswegen bedienen wir uns eben mehr und mehr einer Zusatzdiagnostik, zum Beispiel eines MRTs. Jetzt könnte dieselbe Patientin wieder über die Sehnervenentzündung berichten und dann macht man ein MRT und sieht: „Aha, da gibt es mehrere Läsionen auch schon in anderen Regionen“ und so können wir eben sehr viel schneller diese Verteilung in Ort und Zeit nachweisen. Und da gehört neben dem MRT, noch eine Hirnwasseruntersuchung dazu. Da gehören auch elektrophysiologische Untersuchung dazu. Und dann hat man ein Nebeneinander aus der Krankengeschichte, aus dem klinisch-neurologischen Untersuchungsbefund und der angesprochenen Zusatzdiagnostik. Und wenn man all das sozusagen tatsächlich nutzt, dann kann man nicht, wie vorher schon mal angedeutet, erst nach dem dritten oder vierten Schub auf die Diagnose kommen, sondern idealerweise schon nach dem ersten Schub. Wenn dann rechtzeitig mit Kortison dieser Schub zurückgedrängt wird, dann startet man eigentlich bei einem sehr, sehr guten Niveau in die Therapie der Erkrankung. Denn eins, das ist auch ganz wichtig: Wir können die Erkrankung, sagen wir mal, sehr gut verlangsamen bis stoppen in einigen Fällen. Wir können aber den entstandenen Schaden nach Jahren nur sehr schwierig wieder reparieren. Das heißt also, man muss jemanden in die Therapie aufnehmen in dem Moment, wo er einen super Funktionszustand hat, weil dann kann man den auch möglichst gut bewahren. Und das ist eben der Hintergrund, warum wir so auf frühe Diagnose und frühe Therapie abheben.
Angy [00:26:23] Okay, und das ist auch so meine nächste Frage, die hat sich dann mehr oder weniger schon erübrigt. Das ist wahrscheinlich dann auch der Grund, warum es nicht diese eine Untersuchung gibt, weil es eben bei jedem Patient, bei jeder Patientin unterschiedliche Symptome sein können. Richtig?
Prof. Meuth [00:26:38] Ja. Trotzdem würde ich schon vorschlagen, dass man diese Sequenz an Untersuchungen, die wir erwähnt haben, also die klinische Untersuchung durch den Arzt, die Ärztin, die MRT-Untersuchung, die Elektrophysiologie und die Untersuchung des Hirnwassers, sozusagen als einen Standard im Untersuchungsrepertoire sieht. Dann sollte man doch in der Lage sein, nahezu alle Patienten zu diagnostizieren.
Angy [00:27:03] Was mir jetzt gerade noch so direkt in den Kopf gekommen ist. Ich kenne ja schon auch einige Freunde, Bekannte, die vielleicht nicht wegen jeder „Sache“ zum Arzt gehen. Ist es dann nicht auch manchmal so, dass Menschen zu Ihnen kommen, die vielleicht vor zwei Jahren ein Symptom gehabt haben, was darauf hindeutet, aber sich vielleicht auch dann gar nicht in dem Moment daran erinnern können?
Prof. Meuth [00:27:27] Das wäre keine Seltenheit. Und ja, das ist eben genau der Punkt. Es liegt nicht immer auch an den Ärztinnen und Ärzten, die zu spät reagieren oder die Untersuchungen zu spät auf den Weg bringen. Sondern es liegt vielleicht auch an Menschen und ich kann das auch verstehen. Jetzt hat jemand eine Sensibilitätsstörung, also hat den Eindruck beim Duschen das Wasser im Bereich des linken Beines ist weniger warm als rechts beispielsweise. Ist das jetzt ein Grund deswegen zum Arzt zu gehen? Also wahrscheinlich ist es sogar eine physiologische Reaktion zu sagen: „Na gut, das ist von allein gekommen, es wird von allein auch wieder gehen.“ Wir sind alle schon mal morgens mit einem eingeschlafenen Arm wach geworden, weil man auf dem Ellenbogen gelegen hat oder was auch immer. Das ist eben genau die Gefahr, dass es eben Leute gibt, die die Symptome ignorieren. Umgedreht ist es aber auch manchmal bei den Patienten dann so, wenn die Diagnose einmal im Raum ist oder diagnostiziert wurde, dass dann natürlich so dieser eingeschlafene Arm am Morgen – den Sie vielleicht schon mal hatten, den ich definitiv schon mal hatte - dass das dann direkt als neuer Schub der MS gewertet wird, obwohl es vielleicht eine ganz normale Reaktion ist. Deswegen kann man generell sagen: Symptome, die neu aufgetreten sind und mindestens 24 Stunden halten, sind ein Indikator dafür, noch mal nachgucken zu lassen. Das heißt also, unser eingeschlafener Arm, der dann im Laufe der nächsten halben Stunde wieder normal ist, ist tendenziell kein Symptom.
Angy [00:28:47] Also ist hier dennoch die „Aufforderung“, dass wenn man etwas hat, was länger als 24 Stunden anhält, dass man das auf jeden Fall mal beim Arzt checken lassen sollte?
Prof. Meuth [00:28:57] Keine verkehrte Idee.
Angy [00:29:00] Okay. Gibt es denn sonst noch etwas, was Sie unseren Zuhörer:innen darüber hinaus noch mit auf den Weg geben möchten?
Prof. Meuth [00:29:07] Ja, mir wäre es noch mal ganz wichtig, wenn ich die Gelegenheit ergreifen darf zu sagen: Es gibt immer noch auch heutzutage schwere Verläufe der Erkrankung. Das ist leider so, aber mal aus meiner Erfahrung, ich habe 2004 in der Neurologie angefangen, das heißt, ich überblicke jetzt auch persönlich knapp 20 Jahre. Klingt schlimm, aber es ist leider wahr. Aber die schweren Verläufe, die sind deutlich weniger geworden. Ich habe teilweise auch schon Patienten im Ausland gesehen, in ärmeren Ländern, wo wir eben die Therapieoption nicht zur Verfügung haben. Und sehe da wieder die schweren Fälle, die wir hier früher auch hatten. Deswegen glaube ich, man sollte diese Chancen, die Möglichkeiten, die wir heutzutage haben, wirklich auch als Chance verstehen und dann gucken, was man davon an Angeboten nutzen kann, um eben ein möglichst normales Leben zu führen. Es wird nicht in 100 von 100 Fällen gelingen, ein ganz normales Leben zu garantieren, aber ich möchte gerne verhindern, dass es Leute gibt, die im Nachhinein sagen: „Mensch, hätte ich vor zehn Jahren doch mal irgendwie den Arzt aufgesucht“ oder „Hätte ich eine Therapie versucht, dann wäre es vielleicht ganz anders gelaufen“. Das würde ich gern verhindern.Angy [00:30:17] Vielen Dank. Ich finde, das sind sehr schöne Schlussworte. Vielen Dank, Professor Meuth, dass Sie heute bei uns im Podcast zu Gast waren und unsere Fragen beantwortet haben. Ich denke, damit haben Sie bestimmt vielen Zuhörenden und auch mir einiges Neues an Wissen vermitteln können. Ja, wir hoffen sehr, dass euch diese Folge gefallen hat und ihr wieder viel Hilfreiches für euch mitnehmen konntet. Wie bereits am Anfang erwähnt, wird es eine zweite Folge geben mit Professor Dr. Meuth und da werden wir gemeinsam über das Thema Therapieentscheidung sprechen. Also zwischen Patienten und Arzt und das am besten auf Augenhöhe. Ein wichtiges Thema, ich freue mich schon drauf und sage Tschüss, Professor Dr. Meuth, schön, dass Sie da waren.
Prof. Meuth [00:31:00] Ja, vielen Dank, dass ich dabei sein durfte. Alles Gute.
Angy [00:31:03] Alles Gute! Ja, alles Gute euch auch und bis zum nächsten Mal.
Vielen Dank, dass du uns heute zugehört hast. Du hast Anregungen, Themenvorschläge oder möchtest selbst Teil des Podcasts werden und deine Geschichte mit uns teilen? Dann schreib uns per E-Mail oder direkt auf Instagram. Im Beschreibungstext findest du alle weiteren Informationen und Adressen. Wir freuen uns auf dich.