Gliederung der Podcastfolge:
Angy [00:00:00] Herzlich willkommen zu „Sprich's aus! Bei MS“. Mein Name ist Angy Caspar und gemeinsam mit meinen Gästen sprechen wir in diesem Podcast über die Krankheit der 1000 Gesichter. Hör rein, wenn du mehr über ihre inspirierenden Geschichten und Erfahrungen zu dem Umgang mit der Erkrankung im Alltag erfahren möchtest. Denn bei MS kann man eine Menge machen. Viel Freude beim Zuhören.
Angy [00:00:32] Herzlich willkommen zu unserer neuen Folge von „Sprich's aus! Bei MS“. Ich freue mich sehr, dass ihr wieder dabei seid. In diesem Podcast sprechen wir über Themen rund um Multiple Sklerose, tauschen Erfahrungen aus und geben Tipps für das Leben mit MS. Und heute ist Dr. med. Christoph Grothe zu Gast. Herzlich willkommen und schön, dass Sie da sind.
Dr. Grothe [00:00:51] Ja, ich freue mich auch und freue mich, dabei sein zu dürfen.
Angy [00:00:54] Wir beiden werden gleich über vermeintliche Tabuthemen der Multiplen Sklerose sprechen und verschiedene Fragen klären. Unter anderem auch mal die Frage: Wann ist ein Thema „tabu“? Aus welchem Grund fällt es Patient:innen oft schwer, sensible Themen anzusprechen? Und was kann der behandelnde Neurologe oder die Neurologin tun, um dem Gegenüber mehr Sicherheit zu geben? Diese und viele weitere Fragen klären wir heute. Und ja, ich sage es nochmal, ich freue mich sehr, dass Sie sich heute die Zeit genommen haben, zu Gast in unserem Podcast zu sein. Bitte stellen Sie sich doch unseren Zuhörenden einmal kurz vor.
Dr. Grothe [00:01:31] Das mache ich sehr gern. Mein Name ist Christoph Grothe. Ich bin, ich sage mal, Anfang 50, 52 Jahre alt und wohne in Bonn, arbeite in Troisdorf in einem katholischen Krankenhaus. GFO Kliniken Troisdorf heißt das, habe in der Uniklinik in Bonn gelernt und habe dort mein Facharzt absolviert und habe dort schon die Multiple Sklerose Ambulanz mitgestaltet. Seit 15 Jahren arbeite ich jetzt in diesem Krankenhaus in Troisdorf und leite da die MS-Ambulanz mit vielen jungen, alten und mittelalten Patienten, also ganz bunt gemischt. Ich bin verheiratet, habe drei Kinder und bin auch in dieser Hinsicht ein zufriedener Mann.
Angy [00:02:13] Das freut mich sehr zu hören. Als erstes würde ich gerne von Ihnen wissen, seit wann Sie im Bereich MS tätig sind?
Dr. Grothe [00:02:19] Seit… Eigentlich seitdem ich Neurologie mache. Also seit etwas über 20 Jahren. Das hat in der Uniklinik begonnen. Da hat man mich gefragt, ob ich an der Multiple Sklerose Ambulanz teilnehmen möchte, ob ich da mitmachen möchte. Und da hatte ich noch nicht so viele Ideen, was das bedeuten soll. Habe aber schnell verstanden, dass es vor allen Dingen auch viele junge Patienten betrifft. Und ich war ja damals Anfang 30, also im besten Alter zu verstehen, was es bedeutet, in dem Alter diese Erkrankung zu erleiden. Und seitdem verfolgt mich diese Erkrankung oder ich verfolge die Erkrankung und hoffe, dass sich durch das, was ich tue, auch bei einzelnen Patienten Gutes im Leben bewegt hat.
Angy [00:03:01] Aus welchem Grund verfolgen Sie das schon so lange und haben sich ja auch sozusagen darauf spezialisiert?
Dr. Grothe [00:03:06] Ich glaube, es ist wirklich dieses – also ich habe da in letzter Zeit oft drüber nachgedacht und jetzt kommt man ja so in das Alter, wo man denkt „Hast du überhaupt noch Verständnis für Menschen, die 30 oder 20 oder noch jünger sind, die diese Erkrankung haben?“ Und ich glaube es hat damit zu tun, dass ich mich da sehr gut reinfühlen kann, wie es ist, dass man aus dem Leben herausgerissen wird. Und das schon vor 20 Jahren verstanden habe, dass das eine richtige Katastrophe ist, auch wenn es nicht die absolute Katastrophe ist, wie der Tod oder viele andere Dinge. Aber es ist eine Katastrophe im jungen Alter an einer Erkrankung zu leiden, die für das Leben bestimmend sein kann. Und das hat mich auf der einen Seite fasziniert, im Negativen, aber im Positiven hat es mich motiviert, denn das sind ja genau die Menschen, die auf ein langes Leben noch zusteuern und die davon profitieren können, dass man etwas für sie tut.
Angy [00:03:58] Ja, wir wollen ja heute über sogenannte Tabuthemen bei MS sprechen und laut Definition versteht man unter einem Tabu im Allgemeinen ein in einer Kultur unausgesprochenes, aber allgemeingültiges Verbot. Also ein Tabuthema ist per Definition etwas, was zum Beispiel aus Anstand oder bestimmten Anschauungen heraus nicht angesprochen werden „darf“ oder sollte. Aus welchem Grund ist es denn Ihnen so wichtig, über Tabuthemen bei MS aufzuklären?
Dr. Grothe [00:04:26] Also ganz entscheidend wichtig ist, dass man bei dem Thema Multiple Sklerose eigentlich keine Tabus haben darf. Sie haben das ja gerade definiert, und das ist ja eigentlich die Definition, wie sie allgemeingültig ist, dass das eben Themen sind, über denen ein Konsens besteht, darüber redet man nicht. Also man redet darüber einfach nicht und insofern ist das Wort „Tabu“ eigentlich gar nicht so gut gewählt. Man müsste eigentlich sagen „schambesetzte Symptome“ oder ähnliches, also Dinge, über die man nicht reden will, sind ja nicht gleichzeitig Dinge, über die man grundsätzlich nicht reden darf. Und das ist aber genau das Problem bei dieser ganzen Thematik, dass Patienten und Patientinnen die Vorstellung haben, dass man über diese Themen nicht reden darf, also tut man es nicht. Also das ist schon von vornherein so ein Konsens, man redet nicht über sexuelle Funktionsstörungen, da ist auch schon das Wort Funktion mit drin. Es funktioniert nicht, ich bin schadhaft, das ist ein Fehler, und der ist mit Scham besetzt. Und darüber redet man nicht. Ich glaube genau das ist der Punkt, um den es geht, dass man in der Diskussion mit den Patienten, in der Auseinandersetzung mit der Erkrankung und den Symptomen, ein Gefühl schafft und auch Gefühl miteinander schafft. Dass man enttabuisiert, dass man diese Themen eben nicht zum Tabu erklärt oder dass man versucht, ein Tabu zu brechen, weil man es gar nicht als Tabu benennt, sondern als Dinge, über die man ungerne redet. Vielleicht ist das die bessere Formulierung.
Angy [00:05:52] Welche Tabuthemen gibt es denn Ihrer Meinung nach im Hinblick auf die Erkrankung MS?
Dr. Grothe [00:05:57] Zurück zu der Definition – Es gibt gar keine Tabuthemen, aber das ist eben genau der Punkt. Es darf bei der Beschreibung oder bei der Äußerung der Patient:innen zur Thematik Multiple Sklerose keine Tabus geben. Aber schambesetzte Themen, die allgemein auch leider Gottes oft als Tabu wahrgenommen werden, sind insbesondere Blasenfunktionsstörung, Blasen- und Mastdarmstörungen, sexuelle eben nicht Funktionsstörungen, sondern sexuelle Störungen, zum Beispiel Erektionsstörungen oder eine nicht feucht werdende Scheide. All diese Themen, die bei MS-Patienten eine große Rolle spielen. Depressionen, also affektive Störungen. Die Angststörungen, das sind wichtige, auch schambesetzte Themen. Kognitive Störungen, also Einschränkungen der geistigen Beweglichkeit im Job oder im Privatleben. Das sind so die „Tabuthemen“ oder die schambesetzten Themen, über die die Patienten reden oder nicht reden – darüber reden wollen, aber es dann doch nicht tun oder auch kein Gehör finden bei ihren MS-Therapeuten oder MS-Ärzten.
Angy [00:07:08] Jetzt greifen Sie schon auf eine sehr lange Praxis zurück. Wie ist es denn so in Ihrer Erfahrung: Sind es häufig dieselben Themen, die von Betroffenen als „Tabuthemen“ oder schambesetzte Themen angesehen werden oder gibt es da große Unterschiede unter den Betroffenen?
Dr. Grothe [00:07:25] Also es gibt sicherlich Unterschiede zwischen männlich Betroffenen und weiblich Betroffenen. Das ist sicher, aber es ist vor allen Dingen der Umgang, wie man mit diesen schambesetzten Themen umgeht, der sich bei Patient:innen ganz über die Geschlechter hinweg wirklich unterscheidet. Da gibt es Menschen, die das frei heraus schon von dem ersten Termin im Prinzip schon skizzieren, welche Probleme sie auf diesem Gebiet, in diesen schambesetzten Bereichen haben. Und da gibt es Menschen, die werden da nie hinkommen, weil sie das eben so tabuisieren und weil vielleicht durch Erziehung oder auch durch religiöse Vorstellungen oder ähnliches, diese Themen nicht oder ungerne angesprochen werden. Manchmal ist es der Partner, der darüber Auskunft gibt, der in Begleitung dabei ist und sagt: „Wir wollten doch noch über dieses Thema reden.“ Und dann ist die Scham vielleicht erstmal riesengroß, weil der Partner das Gespräch einleitet, aber zumindest geht dann schon mal das Gespräch über diese tabuisierten Themen, die schambesetzten Themen auf den Weg. Ich selbst versuche das auch immer wieder mal anzusprechen. Da gibt es sicherlich auch Hemmnisse, die auch mit mir zu tun haben. Ist das der richtige Moment? Kann ich das machen? In der Anamnese, also im Erstgespräch, ist man schon auch angehalten, nach all diesen Dingen zu fragen. Also wie ist die Stimmungslage? Fühlen Sie sich dem Alltag auch kognitiv gewachsen? Wie ist es mit der Blasenfunktionsstörung? Sexualität? Also das wird schon mal abgeklopft, aber es ist sehr unterschiedlich, wie die Patient:innen da wirklich damit umgehen und ob sie sich dann auch hinreichend äußern. Da muss man oft warten, bis vielleicht das Problem dann auch formuliert wird.
Angy [00:09:06] Das heißt, können Sie so sagen, ich meine einen Prozentwert gibt es ja nicht, aber können Sie sagen, ist das eher etwas, was von Ihnen dann proaktiv angesprochen wird oder ist es eher was, das von den Patient:innen kommt? Oder kann man das irgendwie gar nicht so richtig einordnen?
Dr. Grothe [00:09:23] Also ich würde schon meinen, dass das mehr von den Patienten geäußert wird. Jetzt kann man sagen: „Ja, das ist doch blöd, dass die Ärztinnen und Ärzte das nicht thematisieren. Dann wäre ja schon mal das Eis gebrochen.“
Angy [00:09:33] Ja.
Dr. Grothe [00:09:34] Das stimmt schon, aber es kann gut sein, wenn man das anspricht, also viele Themen auch anspricht. Ich meine jetzt vor allen Dingen zum Beispiel sexuelle Störungen. Das ist etwas, was man jetzt nicht unbedingt mit jedem besprechen möchte und vielleicht auch nicht mit der Neurologin oder dem Neurologen. Wenn man darauf nicht angesprochen wird, wird man es vielleicht auch niemals sagen, dass es so ist. Aber man lädt die Patient:innen ja schon damit ein, dass man ihnen den Rahmen gibt, also dass man im Umgang miteinander sehr offen spricht. Das heißt also, wenn ich zum Beispiel über Blasenentleerungsstörungen spreche, dann rede ich nicht nur davon: „Haben Sie Probleme mit dem Wasserlassen?“, sondern dann fallen auch mal Kraftausdrücke, die synonym benutzt werden für das Wasserlassen. Das ist für manche junge Patienten tatsächlich hilfreich, auch einmal den Doktor etwas legerer über eine Thematik sprechen zu lassen oder zu hören, was für die Patienten schambesetzt ist, weil das sofort das Eis bricht. Also durch den Umgang und das einladende Verhalten des Therapeuten oder der Therapeutin, schafft man es schon, dass die Patienten regelmäßig auch darüber reden. Sie müssen, wenn sie einen Patienten, eine Patientin kennenlernen, dann müssen sie das ganze Umfeld kennenlernen und fragen sie auch nach beruflichen und auch privaten Dingen. Dann spielt die Partnerschaft eine Rolle. Dann spielen auch Probleme in der Partnerschaft eine Rolle. Und dann ist Sexualität in dem Diskurs der Gespräche auch nicht fern. Wenn ein Patient, eine Patientin weiß: „Mit dem kann ich darüber reden, der ist einladend genug, dass ich das kann“, dann kommt es auch häufig von selbst. Und ich würde sagen, 50% der Patient:innen sind im Verlauf der Therapie durchaus dankbar, das selbstständig anzusprechen. Und so in 20% der Fälle würde ich sagen, muss ich das tun, weil es offenbar ist, vielleicht kognitive Störungen oder Depressionen. Und 30% der Patient:innen wird man damit nie erreichen und werden diese Themen wahrscheinlich auch niemals berichten.
Angy [00:11:32] Okay, jetzt hatten Sie gerade von jungen Patient:innen gesprochen, dass Sie da vielleicht auch ein anderes Wording benutzen. Gibt es denn da Unterschiede zwischen den Altersgruppen, wie man da sozusagen vorgeht oder was man für ein Wording benutzt?
Dr. Grothe [00:11:47] Also ich kann, also ich sage mal… Als Anfang 30-Jähriger hat mir, glaube ich, jeder abgenommen, dass ich Anfang 30 bin. Jetzt als Anfang 50-Jähriger, macht man sich irgendwann lächerlich, wenn man das Wording eines Mitte 20-Jährigen oder einer Mitte 20-Jährigen Patientin benutzt. Also das ist ein bisschen, da darf man sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Jeder, jede ist so alt wie er ist, aber es ist tatsächlich so, dass ich gerade, was diese Direktheit der Ansprache von solchen schambesetzten Themen angeht, eigentlich in allen Altersgruppen einen ganz ähnlichen Wunsch verspüre, da offen drüber zu reden. Wenn man auch das Wording, ich sage jetzt mal… Wir sind ja im Prinzip hier unter uns, es hören noch ein paar Leute zu. Wenn man übers Pinkeln oder „Pissen“ redet, dann ist das manchmal völlig deplatziert, aber manchmal ist es etwas, was einladend ist, auch mal darüber zu sprechen, wie scheiße das ist, dass das mit dem Pissen nicht funktioniert – und das klingt jetzt wirklich etwas primitiv, ist es aber gar nicht. Denn es beschreibt genau das, was die Patientin zu ihrem Freund sagt, wenn sie sagt: „Ich habe scheiße noch mal Probleme mit dem Pissen.“ Und das ist sehr einladend, weil es genau die Wortwahl trifft, um die es geht, nämlich das Leid mit dem Pissen und nicht das mit dem Wasserlassen.
Angy [00:12:59] Ja, also ich kann das sehr gut nachvollziehen, was Sie meinen. Und ich denke, dass können unsere Zuhörenden auch.
Dr. Grothe [00:13:05] Und auch ältere Leute. Sie wären überrascht, wie viele ältere Leute auch jenseits des 60. Lebensjahre gerne einfach mal ein direktes Wort sprechen und auch hören wollen.
Angy [00:13:15] Es hat ja irgendwie auch was von individueller Behandlung zu tun, sich irgendwie auf die Patient:innen auch persönlich einzustellen.
Dr. Grothe [00:13:21] Absolut.
Angy [00:13:22] Ist es denn den Betroffenen, sage ich mal, immer klar, dass der Zusammenhang dieser Themen mit der MS besteht? Also wissen sie, dass die Probleme oder Symptome auf die Erkrankung zurückzuführen sind?
Dr. Grothe [00:13:35] Sie vermuten das stark, weil wenn man einmal diese Diagnose irgendwann bekommen hat, dann erzählt einem jeder Zahnarzt, wenn man Zahnschmerzen hat, die der Zahnarzt nicht erklären kann: „Sie haben ja eine MS. Gehen Sie mal zu Ihrem Neurologen.“ Das heißt, das ist so eine Triggerung, das ist ein Priming, das die Patient:innen häufig haben, dass sie eigentlich alles, was seitdem anders ist, auf die MS beziehen. Aber sie beziehen es vielleicht auch wirklich auf eine Schädigung zum Beispiel des Gehirns oder des Rückenmarks. Und das ist es ja eigentlich nicht immer, das ist ja in vielen Fällen sogar nur eine Ausnahme. Also viele von den Symptomen oder von den schambesetzten Themen oder Symptomen, die wir eingangs erwähnt haben, viele von denen sind ja nicht direkt Folge einer Schädigung des Gehirns und des Rückenmarks. Wenn es so wäre, dann haben viele Patienten auch das Gefühl: „Na, da kann ich ja jetzt eh nichts machen,“ weil man meint, das ist durch die Entzündung im Gehirn oder im Rückenmark entstanden und damit ist an dem Verderben quasi schon ein Häkchen dran, aber so ist es nicht. Und selbst wenn es so wäre, kann man ja therapeutisch trotzdem Einfluss nehmen. Also dieses Bewusstsein ist fast schon übermäßig und kann schon zu einem weiteren Problem sogar werden, dass man immer glaubt, es hängt mit der MS zusammen.
Angy [00:14:51] Sie hatten ja jetzt eben angesprochen, dass es einen Teil der Patienten gibt, die vielleicht erst mal nicht darüber sprechen möchten und auch einen Großteil, der vielleicht niemals darüber sprechen wird. Wie gehen Sie damit um, wenn eine Patientin, ein Patient nicht offen über diese Themen sprechen möchte oder kann?
Dr. Grothe [00:15:09] Also so wie man Respekt davor haben muss, dass viele Patient:innen einfach diese Probleme haben und sich verstanden fühlen, wenn man sie darauf anspricht und man ihnen damit auch hilft, diese Probleme zu bearbeiten. So sehr muss man, glaube ich, auch Respekt davor haben, dass manche Patient:innen diesen Weg nicht wählen und einfach das nicht möchten, weil es sie vielleicht noch mehr belastet, weil sie dieses Sprechen darüber tatsächlich als einen – und jetzt kommt das Wort wieder – als einen Tabubruch, den Sie nicht gehen wollen, empfinden. Ich bin dann bohrend und versuche das nochmal zu vertiefen, wenn ich merke, dass diese Patient:innen aber trotzdem unter manchen Dingen leiden. Also wenn jemand mit dem beruflichen Einerlei, was man seit Jahrzehnten oder seit Jahren macht, nicht klarkommt oder in der Schule nicht mehr alles so gut läuft oder ähnliches und darüber aber gar nicht reden und das gar nicht als kognitive Einschränkung oder so was beschreiben will, dann bohre ich schon nach, weil man ja therapeutisch Einfluss nehmen kann. Wenn das aber Themen sind, wo man das Gefühl hat: „Es macht ihnen nichts aus,“ oder wo man denkt: „Naja, die haben da ein Häkchen dran gemacht und wollen da nicht weiter drüber reden“, dann nützt es häufig bei manchen Patienten auch nichts sehr lange drüber zu reden. Ich lade jeden Patienten, jede Patientin dazu ein, das zu hinterfragen. Rede ich jetzt deswegen nicht über diese Themen, weil es ein Tabu ist, das ich nicht brechen will und auch nicht brechen darf, weil ich so entwickelt bin, weil man mich so erzogen hat, was auch immer, obwohl ich gerne darüber sprechen möchte? Oder ist es ein schambesetztes Thema, nicht für mich, sodass ich da gar nicht drüber reden will, obwohl es so ist, wie es ist? Also das müssen Patient:innen einfach für sich selbst irgendwann herausfinden. Und wieder: Wir laden sie dann dazu ein, so offen darüber zu reden, damit sie die Bühne haben, das zu tun. Man muss einfach die Bühne schaffen. Man muss die Kulisse schaffen, damit sie sich da so wohlfühlen, um dann zu sagen: „Ja, ich habe Blasenfunktionsstörungen. Ja, ich habe keine Lust auf Sex“ oder ähnliche Dinge.
Angy [00:17:15] Also, ich persönlich kann mir vorstellen, dass wenn man sich dann vielleicht mal überwunden hat, auch wenn es viel Überwindung kostet, dass es sich dennoch danach auch befreiend anfühlt, wenn man es dann einmal ausgesprochen hat.
Dr. Grothe [00:17:28] Das ist ganz gewiss so. Ich könnte Ihnen zig Beispiele nennen. In dieser Woche erst habe ich eine junge Patientin gesehen, die ganz viele Jahre über diese Dinge nicht gesprochen hat. Die hatte auch sexuelle Probleme mit ihrem Partner. Dann gab es eine Trennung, dann sind sie wieder zusammengekommen. Eine sehr junge Patientin, die kenne ich schon lange, die ist jetzt immer noch jung und konnte mit mir jetzt mit 24, 25 Jahren seit einigen Monaten oder vielleicht seit einem Jahr über all diese Dinge sprechen. Das hat gedauert, aber sie kann darüber reden. Sie hatte furchtbare Blasenfunktionsstörungen, also sie konnte nicht auf die Toilette gehen. Das ist dann so eine artone, große Blase, wo es keine Blasenentleerung, keine reguläre Blasenentleerung gab. Und ich habe mehrfach mit ihr darüber gesprochen und sie hat das immer beiseitegeschoben und irgendwann hat sie sich so sicher gefühlt, dass sie darüber jetzt reden kann. Jetzt macht sie Einmalkatheterisierung mehrfach am Tag. Diese Lösung wurde gefunden von den Neuro-Urologen, das zu tun. Das wird jetzt regelmäßig gemacht und die lebt richtig auf, weil sie einfach keinen Stress mehr hat mit dem Wasserlassen. Und die mir jetzt vorgestern, das als kleine Anekdote, gesagt hat: „Sehen Sie, Herr Doktor, jetzt kann ich auch im Stehen pinkeln.“ Und da habe ich gesagt: „Ja, schon wieder ein Vorteil mehr.“ Aber das ist dann schon etwas, was eine Riesenentlastung mit sich bringt, wenn die Dinge benannt werden, erstens und wenn man dann vielleicht sogar auch eine Strategie hat, um die Dinge zumindest in ihrer Schwere und in dem Symptom abzumildern oder sogar effizient zu behandeln. Blasenfunktionsstörungen sind da ein sehr, sehr gutes Beispiel. Aber auch Depressionen, also auch Schwermütigkeit, die ja vielfach oder viele Gründe hat bei der Multiplen Sklerose, ist etwas, kaum dass man mal darüber spricht, etwas Entlastendes. Und wenn man dann auch noch hört, man kann etwas therapeutisch dagegen unternehmen, dann natürlich auch sinnstiftend für das weitere Leben.
Angy [00:19:22] Ja, es ist schon, wenn ich jetzt Ihnen so zuhöre, für mich auch ein sehr spannendes Thema und ich mir vorstelle auch ich hätte diese Symptome, dann wüsste ich auch, dass es mir nicht so leicht von der Hand gehen würde diese schambesetzten Dinge einfach anzusprechen. Ich weiß aber auch, wenn ich es getan hätte, dass es sich dann irgendwie befreiend anfühlen würde. Ich kann mir vorstellen, dass es auch natürlich – also wir kommen gleich noch mal dazu, aber auch natürlich im Bekannten- und Freundeskreis, ja dann noch weitergeht. Also wenn ich dieses Thema habe und ich es dann mit Ihnen besprochen habe, dann habe ich es zwar mal mit Ihnen besprochen, aber dann hört es ja sozusagen eigentlich nicht auf.
Dr. Grothe [00:20:00] Genau. Es ist ja so, dass diese Themen, auch wenn sie vielleicht dann im Freundeskreis oder mit der Partnerin und dem Partner nicht besprochen werden, ja trotzdem immer mitschwingen. Warum geht die jetzt schon wieder auf die Toilette? Warum läuft die ständig? Warum muss sie immer im Theater oder im Kino am Rand sitzen? Warum kommt die nicht mit auf die Party? Warum trinkt die jetzt nicht noch ein Bier? Und solche Geschichten... Oder warum fehlt die schon wieder auf der Arbeit? Also all diese Dinge, die werden ja dadurch besser, wenn man sie selbst thematisiert hat. Nicht unbedingt allen alles erzählen, um Himmels willen, davor muss man auch warnen. Das könnte ganz andere Folgen haben, aber zumindest, dass man dann stabiler und selbstbewusster mit diesem Symptom auch umgehen kann. Das ist ja ein Begleiter. Und dieser Begleiter soll einen nicht ständig überrennen, der soll nicht ständig den Alltag dominieren. Und das kann er dann nicht mehr vollständig, wenn er einmal ausgesprochen wird und als der Feind benannt ist, der er ist.Angy [00:20:51] Ja, wir gehen nochmal kurz auf den Punkt zurück – Also, wenn die Patient:innen eben nicht alles erzählen möchten, was ja sozusagen auch ihr gutes Recht ist, inwiefern können Sie denn dann die Patient:innen überhaupt noch vollumfänglich beraten?
Dr. Grothe [00:21:05] Das ist eine sehr gute, extrem gute Frage, wenn man sieht, wie viele Menschen, welche Symptomenkomplexe tatsächlich für MS-Patient:innen wichtig sind. Denn dann ist es häufig nicht das Kribbeln am Fuß oder der letzte Schub vor zwei Jahren, sondern dann sind es eben die ja, ich sage es jetzt einfach mal, die Fehlfunktionen auf dem Arbeitsplatz, in der Schule, das nicht mehr Funktionieren der Partnerschaft und der Sexualität. Dann ist es die Blasenfunktion. Also all diese Dinge sind eigentlich die viel passierenden Dinge. Und wenn wir die jetzt gar nicht besprechen können, also wenn ich über die wirklich schwerwiegenden Symptome, und ich empfinde diese vier Symptomkomplexe, die ich vorhin benannt habe, eigentlich als total schwerwiegend, also alles von all dem und manches mehr, manches weniger. Dann kann ich eigentlich nicht vollumfänglich eine vernünftige, allumfassende Therapie bei den Patienten machen, denn ein Teil von dem, was wir tun, ist ja zu verhindern, dass die Erkrankung schlimmer wird. Also diese berühmte Progression, dass Behinderung zunimmt, das ist ein Teil von dem, das ist viel Chemie, das ist Pharmakologie, das sind spezifische Medikamente, die man da geben kann und das ist auch alles wichtig. Aber es sind ja schon Dinge passiert, die offenbar benannt werden und die jetzt nicht spontan weggehen und auch durch Medikamente dieser Art nicht spontan weggehen. Also muss man die Patient:innen so erreichen, dass man ihnen auch die Chance gibt, diese wirklich einschneidenden Symptome zu benennen und auch zu behandeln. Und da kommt das ins Spiel, was ich am Anfang gesagt habe, man muss sie halt einfach irgendwann mal ansprechen und vielleicht im Verlauf dann auch noch mal, also nicht nur am Anfang fragen: „Haben Sie Probleme beim Sex?“ Dann würden die ja sagen: „Hä, was will der?“ und schreckt dann zurück und sagt: „Ne, natürlich nicht.“ Und dann: „Was erlauben Sie sich?“ Nein, das hat noch keiner gesagt, aber es muss zumindest erkennbar sein, dass man auch später noch Interesse hat an den Dingen, die wirklich entscheidend sind für die Patient:innen und dass die sich auch die Hilfe holen können, die sie bei mir ja auch zum Teil bekommen können. Ich kann nicht alles von diesen Problemen positiv beeinflussen, aber manche Dinge gehen eben doch.
Angy [00:23:09] Würden Sie sagen, dass sich vielleicht auch manche Patient:innen Ihnen mehr öffnen, wenn Sie länger mit den Patient:innen zusammenarbeiten?
Dr. Grothe [00:23:19] Unbedingt. Genau. Und wenn ich während der Begegnungen auch nicht nur über Schubvermeidung und letztes MRT spreche, sondern auch schon – also ich weiß, dass nicht bei jedem, aber manche erinnern mich dann auch dran. Sagen dann so:“ Ja, habe ich doch erzählt, ich bin umgezogen.“ Also diese Ebene, diese hausärztliche Ebene, die ist gerade bei jüngeren Patient:innen total wichtig, weil sie sich als Individuum erkannt fühlen und nicht als irgendeine Person, die mit ihren Problemen überhaupt keinen Fuß in die Tür bekommt bei dieser Ärztin oder diesem Arzt, weil der keine Zeit hat und so weiter und so fort. Man kann auch in fünf Minuten ein paar persönliche Worte wechseln und auch in diesen fünf Minuten kann die Patientin dann das Gefühl bekommen: „Ja, ich glaube, ich kann mit dem auch darüber beim nächsten Mal reden.“ Oder vielleicht sage ich: „Ich habe da noch schnell noch irgendein Problem.“ Und doch, man muss mit den Patient:innen Zeit verbringen und dann auch öfter über diese Themen reden oder ihnen zumindest die Einladung geben, über diese Themen reden zu können.
Angy [00:24:21] Ja, das hört sich jetzt für mich so an, als wäre das eben genau dieses Persönliche, was man auch ins Gespräch mit reinbringt. Und dennoch interessiert mich, ob es da vielleicht so im Laufe der Jahre, in denen Sie das jetzt schon machen, irgendwie eine Methodik gibt, die Sie selbst entwickelt haben, wo Sie vielleicht sagen: „Ach, wenn ich das oder das mache, dann gelingt es mir vielleicht, dass die Patient:innen sich mir mehr öffnen und ihre Scham vielleicht ein bisschen ablegen“?
Dr. Grothe [00:24:45] Also, glaube ich, die klügste, also für mich, jeder hat ja seine eigene Klugheit – das ist ja das Problem – aber meine klügste Idee in der Zeit, in der ich mich mit MS-Patient:innen beschäftigt habe, ist es zu enttabuisieren, wo es immer geht. Also ich versuche, die Patient:innen davon zu überzeugen, dass es kein Tabu gibt, über das es zu reden gibt. Die erzählen natürlich und das werden die Zuhörer:innen sich auch vorstellen können, manchmal Dinge, wo ich sage: „Das hat wirklich nichts mit der MS zu tun.“ Das hat jetzt damit was zu tun, dass weiß ich nicht, dass der Hund weg ist oder dass Sie einfach zu viele Süßigkeiten essen oder was auch immer. Es gibt ja viele Dinge, die im Leben passieren, die wiederum Folgen haben. Und diese Folgen haben dann mit der MS gar nichts zu tun, aber auch das muss vielleicht zwischendurch mal erwähnt sein. Also meine Methode ist tatsächlich immer alle Türen und Fenster aufzumachen, damit die Patient:innen, wenn sie nicht durch die Tür rein wollen, vielleicht zumindest durchs Fenster in den Therapieraum kommen können, um dann dort auch eine Bühne vorzufinden und ein reich gedecktes Buffet, wo sie von schlemmen können und sich wohlfühlen, etwas zu sagen, was man eigentlich ungerne erzählt. Und das ist gar nicht so schwer. Also das kann auch auf dem Flur passieren, man muss respektvoll und einigermaßen locker auf die Patient:innen zugehen, um diese Möglichkeit zu schaffen.
Angy [00:26:17] Wir hatten ja vorhin schon mal ganz kurz über das Thema Geschlechter gesprochen. Da habe ich die Frage, ob es irgendwie eine Rolle spielt, welches Geschlecht die behandelnde und die betroffene Person haben. Also wenn es um das Thema Offenheit und Vertrauen geht. Oder kann man das gar nicht so richtig betiteln?
Dr. Grothe [00:26:34] Doch, das kann man unbedingt betiteln, weil es sowieso in der Medizin ein großes Problem ist, dass die Geschlechterzugehörigkeit des Arztes oder der Ärztin sehr wohl eine Rolle spielt. Was die Behandlung, die Art und Weise, also wie wir miteinander reden, angeht, aber auch vielleicht und das ist so ein echtes Bias in der Therapie, vielleicht auch wirklich was das Outcome angeht. Also man sollte sich als MS-Therapeut, also jetzt männlicher MS-Therapeut sich möglichst geschlechtsneutral verhalten, also tatsächlich Themen aufmachen, wo man sagt: „Ja, das kann ich vielleicht mit meiner Freundin besprechen.“ Aber das funktioniert halt auch nicht immer. Dann ist da jemand mit so einer sonoren Stimme und der sitzt dann einer 20-Jährigen gegenüber. Und dann sagt er: „Jetzt sagen Sie doch mal, wie läuft es denn mit dem Sex?“ Das ist schon von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es sei denn, dass diese Patientin mich wahrnimmt als jemand, der ein sachliches Interesse daran hat, ob das Leben gut ist. Ob auch dieser Teil des Lebens gut ist, ob das mit der Partnerschaft funktioniert oder ähnliches. Das muss für die Patientin erkennbar sein. Und dann kann man das auch als Patientin im Alter von Mitte/Ende 20 ausblenden, dass da so ein Anfang 50-Jähriger graumelierter Sack rumsitzt. Und dann funktioniert das auch bis zu einer gewissen Grenze. Da redet man einfach auch nicht mit seinem männlichen Arzt darüber, das kann sein. Es gibt ganz sicherlich die Möglichkeit, dass eine Frau, eine MS-Therapeutin vielleicht schneller an manche Themen rankommt. Aber ich habe es oft genug erlebt, dass ich mit Männern über sexuelle „Funktionsstörungen“ überhaupt nicht reden konnte, weil da es für den kein Unterschied gemacht hat, ob er das jetzt einem Mann oder einer Frau sagt. Er fand es grundsätzlich völlig scheiße, über dieses Thema zu reden, dass er eine Potenzstörung hat. Und das ist wieder das gleiche Thema. Es ist ein Hemmnis überhaupt über diese Themen zu reden. Und dann kommt dieses Gender Bias noch dazu. Und das muss man irgendwie versuchen, möglichst weitestgehend zu beschneiden, dass dem Gegenüber sicherlich auch noch bewusst ist, dass das Geschlecht gegenüber auch ein anderes ist, aber dass das nicht mehr das Tragende in dem Gespräch ist. Also ich kann jede:n Patient:in wirklich nur auffordern, diese Themen, wenn sie da sind, zu benennen. Es hat überhaupt gar keine Folgen. Warum sollte der MS-Therapeut, der männliche Therapeut dann sagen: „Ich will mit Ihnen über diese Dinge nicht reden.“? Wenn Sie als Patientin sagen: „Ich habe ein Problem, ich möchte wissen, hat es mit der MS zu tun? Ich möchte wissen, kann ich was dagegen tun?“ Dann ist es die Pflicht des männlichen Arztes zu sagen: „Ja, lass uns darüber reden. Ich habe folgende Therapievorschläge.“ Wenn dieser MS-Arzt – jetzt rede ich mich in Rage, Sie merken es – dann aber sagt: „Ne, also mit Sex habe ich nichts zu tun.“ Das will ich nicht ausschließen, dass es dem einen oder anderen Patienten so geht. Dann kann es sein, dass dieser Patient, diese Patientin nicht vollumfänglich, wie Sie es gerade gesagt haben, gut behandelt wird.
Angy [00:29:59] Okay, ich habe mich gerade gefragt, ob das dann, ich sage jetzt mal, ein Beispiel ähnlich wie beim Frauenarzt ist. Da kann ja die Frau auch entscheiden, sucht sie sich eine Frau oder sucht sie sich einen Mann? Und das kann sie ja in dem Falle auch, deswegen. Vielleicht können Sie das auch gar nicht beantworten, aber ich frage mich halt jetzt, wenn man gucken würde bei weiblichen Neurologinnen und bei männlichen Neurologen, ob man da irgendwie erkennen kann, ob sich da die Geschlechter sozusagen bewusst entscheiden für eine Frau oder für einen Mann.
Dr. Grothe [00:30:28] Also ich bin davon überzeugt, dass es auch unabhängig von Gynäkologie, bestimmt weibliche Patientinnen gibt, die sagen: „Ich kann über diese Gesamtheit MS und meine Beschwerden nur mit einer Frau reden.“ Ich erlebe es häufig, dass in meinem Alltag auch Patientinnen von Neurologinnen zu mir kommen und dann sagen: „Ah, die hatte kein Herz, die hat mir nie zugehört.“ Also es ist ja nicht so, dass Männer jetzt grundsätzlich nicht das Gefühl haben können, auch zu verstehen, was das Problem grundsätzlich ist. Ich weiß zwar nicht, wie es sich anfühlt eine Frau zu sein, aber ich weiß ja ganz faktisch, was passiert bei einem weiblichen Körper, wenn manche Funktionen gestört sind. Das heißt, für die Patientinnen ist es einzig und allein wichtig, dass die Chemie, also die Vibes quasi stimmen. Und dass der, der gegenüber ist, den Respekt hat, mir zuzuhören. Ich glaube schon, dass manche Patient:innen tatsächlich ganz bewusst Frauen aussuchen, weil sie vielleicht grundsätzlich im medizinischen Bereich, wenn es selbst darum geht, den Arm nackig zu machen, um Blut abzunehmen, sicherlich Berührungsängste haben. Ich habe tatsächlich Patientinnen, die haben eine ganz schwere psychiatrische Vergangenheit, mit posttraumatischer Belastungsstörung, sogar einige viele. Ich weiß gar nicht, warum es so ist, aber es sind viele, und da hat es Jahre gedauert. Die haben sich dann keinen Neurologen gesucht, sondern die haben gesagt: „Ja, komm, irgendjemand muss mich ja behandeln.“ Aber ich kann Ihnen vergewissern, es ist irgendwann das Eis gebrochen und sie haben mich nicht mehr als eine Traumafigur wahrgenommen. Ja, das mag draußen auf dem Feld dann anders gewesen sein. Aber ich konnte offenbar hinkriegen, dass ich nicht mehr eine Trauma besetzte oder -assoziierte Person war. Und selbst in so einer Extremsituation, die haben teilweise überhaupt nicht am Anfang mit mir geredet, sondern einfach sich nur Rezepte aufschreiben lassen. Das hat dann lange gedauert. Selbst dann kommt man irgendwann daran und die Patientinnen sind extrem offen geworden und sind sehr, sehr nett. Auch im Umgang mit mir und überhaupt nicht mehr in dieser schwierigen Situation behaftet. Also manche Dinge wachsen dann, obwohl man vielleicht am Anfang gedacht hat: „Nee, da kannst du als Mann überhaupt gar nicht vernünftig behandeln.“
Angy [00:32:49] Also ich habe die Frage auch eher deswegen gestellt, weil ich jetzt so gedacht habe, vielleicht hört uns jemand zu, der vielleicht denkt: „Also ich als Frau bin jetzt vielleicht bei einer Frau und fühle mich da gar nicht so wohl. Vielleicht habe ich auch nie darüber gedacht, zu einem Mann zu gehen oder auch andersherum.“ Und das war irgendwie so der Hintergrund, warum ich diese Frage jetzt noch mal gestellt habe.
Dr. Grothe [00:33:08] Ja, ich glaube, das muss man sich sowieso fragen. Ich würde jedem immer empfehlen, sich auch mal eine zweite Meinung oder auch einen zweiten Eindruck zu verschaffen, wenn man das Gefühl hat, dass ich nicht in jeder Hinsicht gesehen werde oder voll gut behandelt werde. Ich gehe auch nicht nur zu dem Zahnarzt, der super Löcher bohren kann und die wieder stopft, sondern ich gehe zu dem Zahnarzt, der vorher ein nettes Wort hat und der auf mich hört, wenn ich sage: „Es tut jetzt gerade weh.“ Und der, der auch mal fragt: „Ja, und wie läuft's auf der Arbeit?“ Also das muss auch alles stimmen. Und bei einer chronischen Erkrankung muss das erst recht stimmen. Das wissen die Onkologen, das wissen die Rheumatologen. Das müssen wir Neurologen auch beherzigen. Und die Patient:innen, die müssen im Zweifel dann sagen: „Ich guck nochmal in einem anderen Haus, ob ich mich da vielleicht wohler fühle.“
Angy [00:33:53] Und können Sie vielleicht so ein konkretes Beispiel aus Ihrer Erfahrung nennen, wo die Geschlechter einen Einfluss auf die Kommunikation oder das Vertrauen hatten?
Dr. Grothe [00:34:01] Ja, also diese Patientin, die ich gerade erwähnt hatte, mit der Blasenentleerungsstörung, das war so ein Thema. Ich kann Ihnen das so skizzieren. Jeder kennt solche Menschen. Das sind Menschen, die eigentlich immer nur flippend durch die Gegend gehen und „Nein, alles ist super und keine Probleme.“ Aber es ist erkennbar, dass Probleme da sind. Und ich glaube, dass sie über die letzten Jahre oder die ersten fünf Jahre oder vielleicht vier, fünf Jahre eigentlich mir immer nur suggeriert hat: „Du: Mann, Arzt. Ich habe keine Probleme mit solchen Dingen. Gib du mir das Medikament. Ich sehe, das MRT ist okay. Ich glaube, wir machen einen guten Job zusammen und fertig.“ Und als es dann irgendwann bröckelte und ich erkannte, dass das alles nicht ganz so super funktioniert hat, da habe ich gemerkt, dass sie auch dieses Mann-Frau-Thema gar nicht mehr hatte in der Diskussion. Ich glaube, sie wollte vor mir keine Schwäche zeigen. Und als ich sie davon überzeugt habe, dass oder wir uns gegenseitig irgendwann im Gespräch diese Überzeugung erarbeitet haben, dass das keine Schwäche ist. Eine Blasenfunktionsstörung zu haben ist keine Schwäche im Leben, sondern es ist nur eine Schwäche der Blase. Und eine kognitive Störung ist auch keine Schwäche des Geistes, sondern es ist nur so, dass man einfach manche Dinge nicht mehr so schnell auf die Kette kriegt wie vorher und da muss man sich irgendwelche Kompensationen überlegen. Öfter mal traurig zu sein, ist auch keine Schwäche, es ist nur eine Schwäche in der Wahrnehmung von anderen Leuten. Und wenn dann der Arzt, in diesem Fall, der Frau sagen kann, der weiblichen Patientin sagen kann: „Das ist keine Schwäche, mir als Mann zu sagen, du hast eine Blasenfunktionsstörung,“ dann funktioniert das auch. Das ist ein Prozess. Auf jeden Fall.
Angy [00:35:47] Mal angenommen, es hat sich jetzt ein Patient, eine Patientin Ihnen anvertraut und offen über Ihre Symptome und Sorgen und Probleme gesprochen. Was sind denn dann die nächsten Schritte?
Dr. Grothe [00:35:58] Der nächste Schritt ist tatsächlich… Es hängt so ein bisschen davon ab, welches Symptom gemeint ist. Also nehmen wir die Blasenentleerungsstörung, die ist ja immer sehr, sehr, sehr häufig. 50-70% der Patient:innen haben das auch schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Rahmen der Erkrankung. Meistens gar nicht so, dass sie das unbedingt immer der MS zuordnen. Manchmal denken sie: „Ach, ich habe ein Harnwegsinfekt oder es ist so kalt geworden oder wie auch immer.“ Aber wenn jetzt so etwas geäußert wird, dann muss man für sich erstmal gucken: Ist das vollständig zu verstehen, was das für eine Problematik ist? Also Blasenentleerungsstörung, ist das etwas, was wirklich eine neurologische Symptomatik einer Multiplen Sklerose ist? Wenn jetzt jemand eine Dranginkontinenz hat, also sehr häufig auf die Toilette gehen muss und man Sorge hat, dass man es nicht auf die Toilette schafft und Tropfen in die Hose gehen oder ähnliches, dann muss man in der Situation das wirklich gut benennen und dann auch die Patienten ein bisschen edukativ, also ein bisschen schulen und sagen: „Ja, das ist eine typische, man nennt es Urge oder Dranginkontinenz, bei einer Blasenstörung bei einer MS.“ Dann ist es einmal ausgesprochen, dann ist es einmal gesagt. Und dann möchten die Patient:innen ja nicht hören, dass es so ist, sondern ob man irgendetwas an all diesen Dingen ändern kann. Und da muss man die Erfahrung oder das Wissen haben: Kann ich das selbst medikamentös behandeln oder muss ich das an einen Fachmann, eine Fachfrau weitergeben, also zum Beispiel an eine Neuro-Urologin oder einen Neuro-Urologen? Bei Depressionen vielleicht eine Psychotherapie, also solche Dinge. Man muss direkt im nächsten Schritt eine Aussicht, eine Perspektive geben, und das geht ja automatisch. Also wenn es einmal ausgesprochen ist, dann ist ja schon mal die erste Hürde genommen, nämlich der Druck ist weg, es ist gesagt. Dann kann es sein, dass man sagt: „Puh, da kann man wenig tun“ oder „Nein, lass uns mal genau gucken, wie gestaltet sich denn? Wie sieht denn diese Störung genau aus? Wie gehst du damit um oder wie gehen Sie damit um?“ Und jetzt habe ich hier ein Arsenal an Möglichkeiten, was man dagegen tun kann. Also es muss immer so eine Strategie dahinterstecken. Das ist ja bei uns im Leben immer so, dass wir das ja eigentlich immer priorisieren und immer einen Step weiter, einem Workflow folgen. Das heißt, die Patient:innen müssen einen Schritt nach dem nächsten mit dem Arzt gehen können. Und das geht halt über das Erkenntnis, dass es diese Störung gibt, zur Beschreibung: Wie ist die Störung genau? Zur Perspektivenbildung: Was ist zu tun? Und dann tatsächlich das Erste zu ergreifen, also die erste Maßnahme zu ergreifen, die das Symptom abmildern soll.
Angy [00:38:39] Ich habe das jetzt so verstanden, dass Sie dann schauen, was Sie tun können für die Patientin, für den Patienten.
Dr. Grothe [00:38:45] Genau.
Angy [00:38:45] Und wenn eben andere Fachärzte notwendig sind, dass Sie die dann auch an die sozusagen verweisen, überweisen?
Dr. Grothe [00:38:51] Genau. Und da ist es gut, wenn wir Netzwerke haben, wo wir auch wissen, dass der oder die einen ähnlich offenen Tabufreien Umgang mit diesen Themen haben und dann weitervermitteln an jemanden, der erkennbar sofort auch eine Idee davon hat, was zu behandeln ist.
Angy [00:39:07] Ja, jetzt komme ich nochmal auf das private Umfeld zurück. Das hatte ich ja vorhin schonmal ganz kurz angesprochen. Das heißt, manchmal öffnen sich dann Patient:innen das erste Mal bei ihnen gerade mit diesen schambehafteten Themen. Und dann ist da aber ja auch immer noch das private Umfeld. Was raten Sie denn da den Patient:innen, wie man das am besten gestaltet?
Dr. Grothe [00:39:28] Es ist immer ganz gut, wenn der nächste Partner, die nächste Partnerin, also die, die im allernächsten Umfeld ist, vielleicht bei einem Gespräch dabei ist oder zum nächsten Gespräch eingeladen wird, wenn der Patientin das wichtig ist, dass das auch mal gehört wird. Stichwort ist zum Beispiel die Fatigue. Das wird ja jetzt vielen der Hörer:innen auch durchaus bewusst sein, was das ist und wie sich das äußert und wie lähmend das im Alltag sein kann. Es ist allein schon deswegen ein Problem diese Fatigue, weil das Umfeld es einfach nicht versteht und nicht versteht, dass man so eine bleierne Müdigkeit und so eine unglaubliche Antriebsstörung und fehlende Belastbarkeit bisweilen verspürt. Das größte Problem ist eigentlich gar nicht so das große Problem, weil man ja eigene Ansprüche hat, die viel höher sind. Aber das andere große Problem ist, dass das Umfeld, das sonst immer so verständnisvoll ist, wenn man sich das Knie aufschlägt und das blutet und dann holen sie alle ein Pflaster. Aber dass das Umfeld in dieser Situation weder verständnisvoll noch lösungsorientiert ist. Und das ist genau der Punkt. Es ist gut, wenn man das nähere Umfeld tatsächlich mit an Bord holt. Zum Beispiel bei so einem Termin, bei dem man dann explizit auch über so was spricht. Und ich rate den Patient:innen eigentlich, aber das rate ich eigentlich auch allen anderen Menschen und wir sind ja alle irgendwann mal Patient:innen, insofern ist es ja okay, wenn man das so ein bisschen breit streut: „Mach dir immer Gedanken darüber, wer jetzt wirklich zu deinem engeren Kreis gehört. Wer gehört zu deiner Mannschaft? Wer ist dein Team MS? Wer ist dein Team? Andrea So und so oder Thomas So und so? Wer gehört zu dir? Wer gehört wirklich zu deinem Inner Circle?“ Wenn man sich das bewusst macht, dann wird man feststellen, dass das gar nicht so viele sind, wie man vorher mal gedacht hatte. Aber die sind es dann wirklich und denen kann man das auch sagen. Und dem Umfeld sollte man dann, wenn es diese Diskussion gibt, zum Beispiel Blasenentleerungsstörungen, „Warum läufst du denn ständig Pinkeln?“, sagen: „Du pass mal auf, du weißt doch, ich habe eine MS, das gehört dazu.“ Es einfach offen zu sagen, nicht zu sagen: „Ja, ich habe so eine schwache Blase, das war schon früher immer so und ich bin so ein nervöses Hemd und so“, sondern einfach zu sagen: „Nein, es ist alles leider Gottes Teil meiner Erkrankung und lass mich pinkeln gehen, du kannst ja sitzen bleiben.“ Auch in der Art damit umzugehen, dass man das als enttabuisiert auch wirklich an das Umfeld weitergibt. Immer Vorsicht bei Leuten, bei denen man sich nicht sicher sein kann und auch bei Arbeitgebern. Immer nur die Dinge sagen, wo man weiß, das fällt nicht auf die Füße zurück. Aber die, bei denen es sogar wichtig ist, das „Tabu“ zu brechen, auch reichhaltig davon Gebrauch machen.
Angy [00:42:05] Und aus welchem Grund ist es denn gerade im engeren Umfeld so hilfreich oder auch wichtig, offen mit diesen Themen umzugehen?
Dr. Grothe [00:42:14] Weil der Druck ja immer steigt, wenn man mit ihm allein ist. Und das ist zwar schön, dass dir die Neurologin oder der Neurologe mal zugehört hat und vielleicht auch Lösungsvorschläge hat. Aber der Druck steigt, weil man ja im Außen, also im Umfeld immer Menschen hat, die vielleicht einen anderen Anspruch an einen selbst haben, als man ihn erfüllen kann. Stichwort Sexualität. Dass man sich nicht einfach gegenseitig immer wundert, dass das mit der Sexualität nicht so gut klappt, sondern dass man darüber spricht: Warum klappt das nicht? Und was kann man vielleicht tatsächlich tun, um es wieder reizvoller zu machen und es auch dann für die MS-Patient:innen wieder auch möglicher werden zu lassen. Der Druck wird, sobald man es ausspricht, dann von der Patientin genommen und wird nicht unbedingt verteilt. Aber es ist auch für den anderen, für den Partner, die Partnerin nicht unerheblich zu wissen, dass es zum Beispiel nicht an ihr oder ihm liegt oder dass es nicht an der fehlenden Liebe oder der fehlenden Zuneigung liegt. Sondern dass es tatsächlich etwas ist, wogegen man was tun kann, woran man arbeiten kann. Aber was viel eben auch mit der Grunderkrankung zu tun hat. Und dann ist der Druck weg. Wenn dann eine Partnerin oder ein Partner sagt: „Naja, wenn das jetzt auch noch die MS ist, dann weiß ich auch nicht, wie es weitergehen soll.“ Dann hören Sie schon an meinem Ton, dass es möglicherweise nicht eine Partnerschaft ist, die auf gegenseitiger Wertschätzung und Respekt beruht und gebaut ist. Ich will keinen dazu anraten jetzt zu sagen: „Wir reden jetzt einmal über den Sex und danach entscheide ich, ob ich mit dir zusammenbleibe.“ Das natürlich nicht, sondern es muss einfach so offen sein. Weil wir reden ja gerne über Sex, wenn er klappt. Aber wir reden ja ungern über Sex, wenn er nicht klappt oder wenn er nicht stattfindet, dann reden wir am liebsten gar nicht darüber. Dann schalten wir um, wenn im Fernsehen irgendeine Liebesszene ist und sagen: „Ne, ne, das geht uns nichts an.“ Das ist tatsächlich auch ein Beispiel aus dem Alltag, weil mir das eine Patientin mal erzählt hat, es wäre so schlimm gewesen, sie konnte einfach keine Lust mehr empfinden. Weil sie auch eine leichte Spastik in den Beinen und ein Kribbeln in der Schamgegend hatte und sie konnte die Lust nicht empfinden, aber sie steht so auf ihren Freund, immer noch total und sie wird auch erregt, sowohl innerlich als auch, aber sie kann das dann ganz schlecht machen. Und jedes Mal habe sie dann, wenn sie zusammen irgendwie einen Film geguckt haben, hat sie dann umgeschaltet und hat gesagt: „Ha ha, das ist wieder mal so ein Hollywoodstreifen, das ist ja wieder mal Schmu.“ Aber nur deswegen, weil sie das Thema tabuisiert hat, weil sie nicht drüber reden wollte. Und das ist dann gelungen tatsächlich, dass sie darüber gesprochen hat mit ihrem Partner. Sie sind noch zusammen und ich bin jetzt nicht Zeuge, aber ich vermute, dass es jetzt auch ein bisschen besser klappt, denn sie machen einen glücklichen Eindruck.Angy [00:44:57] Und haben Sie denn vielleicht noch für die Partner, Partnerinnen irgendwie so eine kleine Empfehlung? Denn es ist ja auch manchmal so, dass der Partner, die Partnerin auch merkt oder spürt, dass da vielleicht irgendwas ist, was die andere Person, die jetzt MS hat, nicht sagen möchte, weil es vielleicht auch schambehaftet ist. Gibt es da vielleicht noch eine Unterstützungsmöglichkeit?
Dr. Grothe [00:45:21] Sie meinen jetzt, wenn mir eine Partnerin oder ein Partner zuhört? Oder wenn die bei uns, bei mir gegenübersitzen?
Angy [00:45:28] Ne, ich meine jetzt einfach so generell, weil es hören uns ja vielleicht jetzt auch welche zu, die nicht selbst von MS betroffen sind, aber vielleicht Partner oder Partnerin sind. Und ich denke mal, die spüren ja auch manchmal, wenn es da vielleicht ein Thema gibt, was von der anderen Seite nicht ausgesprochen werden möchte, weil es vielleicht schambehaftet ist. Vielleicht gibt es ja da irgendwie so von der Herangehensweise von Ihnen noch einen Tipp, was die dann in dieser Situation machen können?
Dr. Grothe [00:45:54] Also was sie immer machen können, weil man damit nichts falsch machen kann, ist völlig offen darüber zu reden. Das klingt so banal, wie es ist. Es ist so banal, aber man kann in einer Partnerschaft nichts falsch machen. Wenn Sie die Partnerin oder der Partner einer MS-Patientin oder eines MS-Patienten sind und Sie merken, dass irgendetwas nicht stimmt und dass das vielleicht auch auf die Partnerschaft sich auswirkt, und es wirkt sich auf zum Beispiel Sexualität aus oder auf andere Dinge im Miteinander. Dann kann jeder Einzelne das so offen ansprechen und auch bohren und auch sogar die Patientin nerven damit, dass man sagt: „Was können wir denn tun, dass es dir besser geht?“ Das kann nervend sein und kann auch eine Beziehung schwierig machen, wenn man immer nur über Probleme redet, aber es ist wichtig, dass man das als Partner, als Partnerin immer wieder sich traut und sicher geht, dass das etwas ist, was nicht zum Beispiel mit der MS zusammenhängt und positiv auch beeinflusst werden könnte. Dass man was verpasst, dass es deswegen nur schlimmer wird, weil man nicht drüber redet. Das Reden darüber, so heißt ja auch der Titel von Ihrem Podcast, dass man drüber sprechen soll, dass man – ja, das passt jetzt zu diesem Thema sehr, sehr gut – Sprich drüber. Es muss drüber gesprochen werden. Man kann das natürlich auch subtil machen. Man kann natürlich auch darum bitten, dass man zum Beispiel mit der Ärztin oder dem Arzt zusammen einmal spricht und dass man auch im Gespräch dann sagt: „Ja, meine Partnerin, die hat da und damit Probleme.“ Dann spricht mal die Partnerin: „Darf ich kurz mit deinem Arzt, deiner Ärztin darüber sprechen?“ Da sagen die meistens dann auch nicht Nein und dann wird ein offenes Dreier-Gespräch aufgemacht, in dem man dann auch auf professioneller Ebene auch darüber reden kann. Also die sollen sich ruhig einbringen in das Gesamtbild, diese Symptomatologie des Partners. Es ist nicht jedem gegeben. Es ist nicht total leicht, weil man ja auch vielleicht eine Person kennengelernt hat, die diese chronische Erkrankung nicht hat. Mir hilft es immer den Patient:innen und auch den Angehörigen zu sagen: „Jetzt ist es die Frau So und so, also ihre Partnerin, ihr Partner, die jetzt eine MS hat. In zehn Jahren haben Sie eine chronische Erkrankung.“ Irgendwann kriegen wir alle eine chronische Erkrankung. Dann ist es die entzündliche Gelenkerkrankung oder der Krebs. Jeder von uns wird irgendwann eine chronische Erkrankung bekommen und MS-Patient:innen haben es halt häufig früher und müssen damit leben. Und auch die Angehörigen, wenn da Liebe im Spiel ist, müssen damit leben und dann eben auch mit jedem einzelnen Teil dieser Erkrankung, den man nur dadurch ausräumt, indem man ihn beschreibt und dann perspektivisch versucht, etwas dagegen zu unternehmen. Da ist der Partner, die Partnerin auch sehr, sehr wichtig.
Angy [00:48:36] Vielen Dank! Ja, vielen Dank erstmal für diese umfangreichen Informationen, Dr. Grothe. Ich bin mir sicher, dass sich einige Betroffene dadurch gestärkt fühlen und auch bestärkt fühlen, offener mit vermeintlichen Tabuthemen umzugehen. Und daher finde ich es total wichtig, dass wir heute zu diesem Thema gesprochen haben. Mir hat es unfassbar viel Freude bereitet. Bevor wir ganz zum Ende kommen, habe ich noch zwei letzte Fragen an Sie. Sie haben ja jetzt schon zahlreiche Tipps im Umgang mit Tabuthemen oder schambehafteten Themen gegeben. Dennoch möchte ich da noch mal nachfragen: Gibt es noch irgendwas an Tipps oder Empfehlungen, die Sie unbedingt noch ergänzen oder loswerden möchten?
Dr. Grothe [00:49:19] Also eine sehr allgemeine Empfehlung wäre – Es gab mal einen Seefahrer, der hieß Kolumbus, den kennt ja jeder, weil jeder glaubt, dass er Amerika entdeckt hat, aber ich glaube, das hat sich jetzt mittlerweile auch ein bisschen überlebt, diese Idee. Aber der hat wohl mal gesagt, also jetzt frei übersetzt oder dem Wortsinn nach, dass man nie weiterkommt, wenn man nicht das Ufer auch aus dem Blick verliert. Wenn man also den Strand, den Hafen immer irgendwie im Blick hat, dann wird man nicht weiterkommen. Wenn man also immer nur verhaftet und im Hafen ist und sagt: „Ja, ich habe MS und ja, ich habe dieses und jenes Problem, ich muss mit mir allein klarkommen. Da kann man eh nichts machen, das ist eine chronische Erkrankung, die wird immer nur schlimmer.“ Wenn man in dieser Idee verhaftet ist, verhaftet im Sinne von wirklich haftend ist und nicht sagt: „Ja, ich setze mich jetzt auf den Kahn, und wenn das Ufer weg ist, dann habe ich zwar ein bisschen Unsicherheit, wohin mich das führt, aber zumindest führt es mich irgendwohin.“ Und das soll auch die Einladung sein, zu sagen: „Ja, ich fahr jetzt in die Kommunikation und in das Gespräch hinein, und ich bin jetzt offensiv.“ Eine Patientin hat mir gerade Bilder geschickt, die konnte vorher kaum gut laufen. Die ist jetzt mit ihrem E-Bike nach Holland an die Nordsee gefahren. Das ist der glücklichste Mensch, den ich in den letzten paar Monaten beruflich gesehen habe. Die hat einfach den Hafen hinter sich gelassen und hat nicht zurück geguckt. Und das sollten wir alle mal machen. Das müssen MS-Patienten, das müssen Menschen mit chronischen Erkrankungen eben auch machen und dabei ganz offensiv sein. Seien Sie offensiv und eines darf keiner von Ihnen allen vergessen: Wenn es irgendwo eine Störung gibt, dann gibt es immer irgendwo auch eine Ressource, die diese Störung ausgleicht.
Angy [00:51:07] Das ist ja fast schon ein schönes Schlusswort, aber ich habe noch eine Frage.
Dr. Grothe [00:51:11] Und was war die zweite? Ja, stimmt. Sie sagten zwei.
Angy [00:51:14] Und zwar gibt es denn irgendwas in Bezug auf unser Thema heute, was Sie gerne noch behandelnden Personen wie zum Beispiel Neurolog:innen oder MS-Nurses mit auf den Weg geben möchten?
Dr. Grothe [00:51:27] Also beiden würde ich auf den Weg geben wollen, dass die MS-Therapie tatsächlich nicht einfach eine Therapie einer entzündlichen Erkrankung ist, bei der es getan ist, die Erkrankung zu erkennen und Therapien einzuleiten, Therapien dann auch zu überprüfen, vielleicht umzustellen und es in diesem technokratischen Bereich zu belassen. Es ist ganz klar, dass das Wichtigste ist, dass man eine vernünftige pharmakologische Behandlung hat für die Patienten, um weitere Erkrankungsaktivität zu vermeiden. Da gibt es jetzt ein gutes Arsenal für diese Erkrankungen, so dass wir es schaffen können, dass Patienten auch in höheres Alter kommen, ohne dass da die Behinderung so schwerwiegend ist, dass sie nicht mehr teilhaben können am Leben. Also das wird immer weniger und immer seltener. Aber diese Probleme, die die Patienten und Patientinnen wirklich angeht und die wirklich auch behindernd sind, wie die am Anfang schon genannten, vielen schambesetzten Themen. Die sind wirklich behindernd. Und wir Ärzt:innen und wir Therapeut:innen müssen diese Dinge im Fokus haben, weil wir auch hier therapeutische Ansätze haben und wenn wir das nicht im Fokus haben, dann ist das Gehirn möglicherweise nicht weiter entzündet, um es mal so platt zu sagen, aber die Patientin ist trotzdem todunglücklich, weil die Themen nicht angepackt wurden, die es anzupacken gilt. Und das ist der Appell an die Therapeut:innen, aber natürlich auch der Appell an das Umfeld der Patient:innen und an die Patient:innen selbst, diese Dinge wirklich auch zu benennen und zu behandeln. Und wenn man das als MS-Therapeut:in nicht tut, ist man nicht vollumfänglich kompetent, das zu machen. Das klingt böse, aber die meisten werden wissen, was ich damit meine.
Angy [00:53:16] Ich bedanke mich von ganzem Herzen, Herr Dr. Grothe, dass Sie heute in unserem Podcast zu Gast waren und mit mir über dieses Thema gesprochen, aber auch all die Fragen beantwortet haben. Also ich könnte auf jeden Fall noch weiter mit Ihnen sprechen. Es war sehr spannend und ich bin mir sicher, dass auch unsere Zuhörenden das eine oder andere neue mitnehmen konnten. Und ich bedanke mich ganz, ganz herzlich, dass Sie dabei waren.
Dr. Grothe [00:53:41] Ich war sehr gerne dabei und ich grüße alle, die das hier gehört haben.
Angy [00:53:45] Vielen Dank.
Dr. Grothe [00:53:45] Und wünsche alles Gute. Danke.
Angy [00:53:48] Danke. Ja, wir hoffen, dass euch diese Folge gefallen hat und ihr wieder viele Informationen und Tipps mitnehmen konntet. Hört auch gerne beim nächsten Mal wieder rein, wenn es heißt „Sprich's aus! Bei MS“.
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