Gliederung der Podcastfolge:
Angy [00:00:00] Herzlich willkommen zu „Sprich’s aus! Bei MS“. Mein Name ist Angy Caspar und gemeinsam mit meinen Gästen sprechen wir in diesem Podcast über die Krankheit der 1000 Gesichter. Hör rein, wenn du mehr über ihre inspirierenden Geschichten und Erfahrungen zu dem Umgang mit der Erkrankung im Alltag erfahren möchtest. Denn bei MS kann man eine Menge machen. Viel Freude beim Zuhören.
Angy [00:00:33] Hallo und herzlich willkommen zur zweiten Folge von „Sprich’s aus! Bei MS“. Ich freue mich sehr, dass ihr wieder dabei seid. In diesem Podcast sprechen wir über Themen rund um Multiple Sklerose, tauschen Erfahrungen aus und geben Tipps für das Leben mit MS. In unserer ersten Folge haben Samira und Alex darüber gesprochen, warum ein offener Umgang mit der Erkrankung wichtig ist und, dass man die Diagnose erst einmal für sich selbst akzeptieren muss, bevor man mit Außenstehenden über die Erkrankung sprechen kann. Aber auch selbst dann ist es gar nicht so einfach, die Erkrankung und die damit einhergehenden Symptome anderen verständlich zu machen. Denn bei MS gibt es eine Vielzahl unsichtbarer Symptome und diese können Außenstehende oft nicht verstehen. Wie man damit umgeht, wenn man auf Unverständnis trifft und was es für Möglichkeiten gibt, seine Erkrankung anderen Menschen näherzubringen, darüber möchte ich heute gemeinsam mit Martin Praast sprechen. Lieber Martin, herzlich willkommen und schön, dass du dabei bist. Es freut mich sehr, dass wir heute miteinander sprechen können. Stell dich doch bitte einmal kurz vor.
Martin [00:01:39] Hallo Angy, danke für die Einladung. Ich bin Martin Praast. Ich bin 48 Jahre alt, bin Medizininformatiker und glücklich vergeben an meine Frau. Wir wohnen zusammen in der Nähe von Darmstadt. Meine Hobbys sind Lesen, Fotografieren, Kochen, dann auch das meiste von dem aufessen, was ich koche. Und zum Ausgleich bin ich aber gerne draußen, fahre Mountainbike oder laufe auch einfach nur zu Fuß durch die Natur. Und ich lebe seit vier Jahren mit MS.
Angy [00:02:07] Vielen Dank für die Vorstellung, Martin. Wie hat das denn damals bei dir angefangen?
Martin [00:02:13] Das war Ende 2016 und eigentlich habe ich mich zu dem Zeitpunkt total fit gefühlt. Ich war schlank, gut durchtrainiert, habe mich sehr gesund ernährt, denn ich hatte ein Jahr vorher die Diagnose Diabetes bekommen und daraufhin mein Leben schon in Richtung gesunde Lebensführung umgekrempelt. Und dann fing es an, dass ich mal vergessen hatte, ob ich die Haustür abgeschlossen habe oder ob ich den Autoschlüssel mitgenommen habe. Das fand ich aber so diffus, dass ich dachte, mit Mitte 40 kann man das einfach schon mal haben. Dass etwas nicht gestimmt hat, habe ich am 23.12.2016 gemerkt. Da ist das legendär erfolglose Weihnachtsangeln mit meinem Schwager am Rhein. Da geht man an die Rheinauen von Düsseldorf und klettert auf Steinbuhnen, um etwas näher am Fluss zu sein. Man muss diese Steinbuhnen quasi überqueren, um an deren Spitze zu stehen und da die Angel auszuwerfen. Mein Schwager kletterte einfach doppelt so schnell wie ich da lang und der ist auch kein Kletter-Meister. Da habe ich gedacht, warum läuft der doppelt so schnell wie du? Dann habe ich das versucht zu ergründen, warum ich jeden Fuß ganz vorsichtig vor den anderen setzen musste, um nicht abzustürzen, und habe keine Lösung dafür gefunden und mir gedacht: „Dann ist das jetzt halt so.“ Im Nachhinein habe ich gedacht: „Das war der Tag, an dem du hättest merken müssen, dass etwas nicht stimmt, denn du hattest schon kein gutes Gleichgewicht und du hattest kein gutes Balance-Gefühl.“ Aber da wusste ich ja auch nicht, worum es geht. Dann haben wir natürlich nichts gefangen, haben Weihnachten gefeiert und mussten Fisch in der Metro kaufen. Weihnachten war stressig wie immer mit Drillingen – ein Riesentheater. Nach Weihnachten lag ich dann im Wochentakt flach, mit einem Infekt nach dem anderen. Als das im Januar alles vorbei war, waren meine Schienbeine taub, pelzig. Ich konnte es gar nicht genau beschreiben. Es war nicht komplett taub, aber es fühlte sich falsch an. Und das ging jeden Tag ein bisschen weiter hoch. Als das Gefühl bei den Knien angekommen war, bin ich zur Hausärztin gegangen und habe gesagt: „So und so wollen sie mal darauf gucken?“ Ich habe mir noch nichts dabei gedacht. Die Hausärztin war total alarmiert und hat gesagt: „Sie gehen jetzt zum Neurologen!“ Und ich sagte: „Okay, dann gehe ich zum Neurologen.“ Dann war ich beim Neurologen und der Neurologe sagte mir, das sei gar nichts Schlimmes und ich sollte einfach abwarten. Dann bin ich wieder zur Hausärztin gegangen. Inzwischen war dieses taube Gefühl auf Höhe der Oberschenkel angekommen. Die Hausärztin sagte irgendwas stimme gar nicht, ich solle jetzt ins Krankenhaus gehen. Da war ich dann total alarmiert, weil erstens wollte ich nicht ins Krankenhaus und zweitens habe ich gedacht, wenn ich ins Krankenhaus muss, dann muss es schlimm sein. Dann kam ich sofort ins Krankenhaus und wurde dort komplett durch die Mangel gedreht.
Angy [00:05:17] Wie war da der Zeitabstand zwischen den Ereignissen? Also du hast eben von dem 23.12. gesprochen. Wann bist du dann tatsächlich ins Krankenhaus gegangen?
Martin [00:05:28] Einen Monat danach. Es ging mir innerhalb eines Monats rapide schlechter. Als ich im Krankenhaus ankam, etwa Anfang Februar, war dieses Taubheitsgefühl auf Höhe des Bauchnabels angekommen.
Angy [00:05:42] Dann bist du ja ins Krankenhaus gegangen. Wie lief das denn dort genau mit der Diagnose ab?
Martin [00:05:50] Also meine Krankenhaus-Geschichte würde ich als Negativbeispiel, quasi wie fürs Lehrbuch gemacht, bezeichnen. Und ich erzähle das jetzt einfach mal.
Angy [00:06:01] Sehr gerne.
Martin [00:06:01] Meine Frau ist Krankenschwester in dem Krankenhaus, das mir schon einmal einen VIP Status verschafft hat, wodurch ich sofort einen Platz in der Neurologie bekommen habe. Meine Frau selber arbeitet in der Kardiologie, zwei Stockwerke weiter oben. Am Freitagnachmittag bin ich dort angekommen und saß auf dem Flur. Als Erstes fragte mich die aufnehmende Ärztin, was ich denn habe. Dann habe ich gesagt: „Das weiß ich nicht. Ich habe nur taube Beine.“ Dann sagte sie, sie müsse etwas auf ihren Bogen schreiben, was ich habe, was wir jetzt machen sollen. Ich habe gesagt: „Ich habe keine Ahnung, was ich habe. Das müssen Sie mir jetzt eigentlich sagen.“ Daraufhin meinte sie: „Egal, dann schreibe ich irgendwas hin.“ Und dann hat sie ein MRT vom Kopf gemacht. Dann war Wochenende und es passierte nichts bis Montag. Dann kam der Oberarzt, sagte nichts. Dann habe ich ihn gefragt, was bei dem MRT herausgekommen ist. Und dann sagte er den Satz: „Wir haben nichts gesehen, was da nicht hätte sein sollen bei einem Mann in ihrem Alter“ und ging wieder. Da habe ich mir lange überlegt, welche Grammatik und welche Zeiten in diesem Satz jetzt verbaut waren und was die mir sagen sollten und war letztendlich genauso schlau wie vorher.
Angy [00:07:18] Wie ging es dir dann in dieser Zeit und was für Dinge haben dich gedanklich beschäftigt?
Martin [00:07:24] Ich bin mir vorgekommen, als wäre ich komplett fehl am Platz im Krankenhaus. Alle lagen da schwer krank im Bett – Rollstuhl, Infusionen, konnten nicht laufen, waren sehr alt. Und ich bin mir sehr jung und fit vorgekommen. Ich bin zwei Wochen vorher noch zwei Stunden Mountainbike gefahren und hatte ja auch keine körperlichen Einschränkungen. Mir hat man das auch nicht angesehen, dass mein ganzer Körper taub ist. Das sieht man einfach nicht. Ich hatte auch keine Lust, plötzlich im Bett liegenzubleiben. Ich bin dann den ganzen Tag durchs Treppenhaus gewandert, ums Haus herumgelaufen, bis irgendwann mal jemand zu mir gesagt hat: „Das geht nicht.“ Ich müsste wenigstens zur Visite in der Nähe von meinem Zimmer sein, damit die Ärzte mich auch sehen. Aber es war mir komplett zuwider im Bett liegenzubleiben und nichts zu tun. Also bin ich den ganzen Tag mehr oder weniger herumgestrolcht. Ich kannte dort auch ein paar Leute, habe meine Frau besucht bei der Arbeit und habe mir eigentlich noch gar nichts Böses gedacht, weil mir auch keiner etwas gesagt hat.
Angy [00:08:23] Wie ging es denn weiter an der Stelle, die du gerade eben schon erwähnt hast, als dieser Arzt zu dir ins Zimmer kam und dir diesen Satz gesagt hat?
Martin [00:08:32] In diesem Moment war ich wirklich noch unentschlossen. Klar habe ich gegoogelt, was ich haben könnte, aber weder Google noch meine Ärzte haben mir eine konkrete Antwort auf meine Frage geliefert. Dann wurde bei mir von Tag zu Tag die „Diagnose-Maschine“ hochgefahren. Sie haben mir am ersten Tag ein Röhrchen Blut abgenommen, am zweiten Tag zwei und nach einer Woche hatte ich das Gefühl, dass die mir einen ganzen Liter Blut abnehmen. Und so ging es immer weiter. Es kamen immer neue Untersuchungen, neue MRTs, Nerven-Messungen. Liquor wurde entnommen – also Nervenwasser – und das war halt sehr unangenehm. Irgendwann standen dann der Chefarzt und seine Assistenzärztin vor mir und ich habe dann gefragt: „Was ist denn jetzt?“ Da sagte der Chefarzt: „Wir glauben, dass es irgendeine Infektion ist.“ Da dachte ich: „Das ist super“, denn eine Infektion bedeutet, dass man Antibiotikum einnehmen muss und dann nach zwei Wochen wieder fit nach Hause gehen kann. Dann nickte er seiner Stationsärztin zu und sagte, sie glaube, dass es etwas anderes sei, aber das glaube er nicht. Und dann standen die jeden Tag vor meinem Bett und machten diese Show. Irgendwann habe ich dann gefragt: „Was glaubt Ihre Stationsärztin?“ Da sagte er nur: „Irgendetwas Autoimmunes.“ Darunter konnte ich mir nicht so richtig etwas vorstellen. Irgendwann hatte meine Frau dann glaube ich Mitleid, denn die Befunde waren ganz eindeutig, und sagte mir dann abends: „Du weißt schon, dass die meinen, dass das MS ist?“ Und da habe ich das zum ersten Mal gehört und auch gesagt bekommen. Ich wusste vorher von nichts – trotz Google – und da hat’s mich dann schon aus der Bahn geworfen.
Angy [00:10:13] Okay, das heißt, dass du die Diagnose von deiner Frau erfahren hast, was ja nicht ihr Job ist in diesem Zusammenhang.
Martin [00:10:25] Auf gar keinen Fall.
Angy [00:10:26] Wie ging es dir dann damit, Martin? Was ist dann in deinem Kopf passiert?
Martin [00:10:31] Erst einmal habe ich gedacht: „Oh, das ist nicht gut. Das zieht sicherlich Konsequenzen nach sich. Da ist es mit zwei Wochen Antibiotikum nicht getan. Was passiert jetzt wohl?“ Am nächsten Morgen kam der Chefarzt und setzte sich auf den Stuhl. Sonst dauerte die Visite immer 30 Sekunden, aber jetzt nahm er sich einen Stuhl und redete eine halbe Stunde auf mich ein, nannte aber nie den Begriff MS. Er hat eine halbe Stunde blumig umschrieben, was ich habe. Dann hat er noch gesagt: „Sie können in eine Reha gehen.“ Ich habe nur gedacht: „Gott, ich will nach Hause und nicht in die Reha.“ Und dann sagte er: „Der Praktikant kann auch mal ein paar Broschüren aus der Ambulanz holen, da haben wir ja was.“ Dann ging er und der Praktikant kam und brachte mir zwei Broschüren. Einmal „Rollstuhl gerechter Umbau des Hauses“. Und das zweite war „Blasenkatheterisierung“, wenn man nicht mehr auf die Toilette gehen kann. Und ich habe gedacht: „Huch, einen Rollstuhl habe ich jetzt nicht auf dem Schirm gehabt und Blasenkatheterisierung auch nicht.“ Ich war geschockt. Ich habe nicht mehr gegoogelt. Ich lag den ganzen Tag in Schockstarre da und habe eigentlich gar nichts mehr gedacht, weil ich überfordert war.
Angy [00:11:50] Wie du es vorhin schon gesagt hast, klingt das nach genau so einem Fall, wie es nicht ablaufen sollte. Kannst du noch mal kurz beschreiben, was in diesem Moment in deinem Kopf ablief bzw. was für Gefühle dich an diesem Tag begleitet haben, nach dieser Visite?
Martin [00:12:07] An dem Tag nur eine Leere. Man muss sagen, dass die Geschichte noch einen Endpunkt hat, der dann alles komplett ins Kippen gebracht hat. Ich war einfach nur leer. Ich war noch nicht einmal wütend oder traurig, sondern ich wusste einfach nicht, wie es weitergeht. Und das Krankenhaus hat ein großes offenes Foyer, um das alle Stationen herum gebaut sind. Da sind Balkone, auf die man sich setzen und in dieses Foyer heruntergucken kann. Das habe ich dann abends gemacht und habe überlegt, wie es so weitergeht. Und plötzlich habe ich dann einen Luftzug hinter mir gespürt und dann tat es einen lauten Knall und dann war ein Patient von meiner Station einfach hinter mir über die Brüstung gesprungen und hatte sich selbst umgebracht und lag dann zwei Stockwerke tiefer auf dem Stein-Fußboden. Und ich habe es gesehen und gedacht: „Oh nein!“ Ich habe die Nachtschwester gerufen, bin auf mein Zimmer gegangen und ich habe gedacht: „Gott, was hast du da jetzt mit angeguckt?“ Ich war ja ohnehin verzweifelt, aber danach war ich jenseits von Gut und Böse. In der Nacht durchlief ich dann noch das komplette Programm von Kripo, Befragungen etc. Die Nachtschwester weinte. Ich weinte. So standen wir dann beide da und der Arzt kam und fragte: „Was kann ich denn für Sie tun?“ Dann sagte ich: „Ich glaube, ich werde die Nacht nicht schlafen können.“ Dann sagte er ernsthaft zu mir: „Ja, ich schlafe heute Nacht auch nicht.“ Dann sagte ich: „Aber Sie haben doch Dienst!“ Dann sagte er: „Okay, ich gebe Ihnen etwas zum Schlafen.“ Und dann habe ich auch geschlafen. Und am nächsten Morgen bin ich dann irgendwann aufgewacht und habe gedacht, ich habe vielleicht schlecht geträumt oder so. Aber so war es dann leider nicht.
Angy [00:13:58] Es fällt mir wirklich schwer, dafür Worte oder einen Anschluss zu finden.
Martin [00:14:03] Da kann man auch fast nichts zu sagen. Diese Geschichte ist jenseits von Gut und Böse. Man hat ja ein Repertoire, auf das man Antworten findet: Trennung, Trauer, vielleicht auch schwierige Lebenssituationen. Da kann man sagen: „Ja, das habe ich schon mal erlebt.“ oder „Daran erinnere ich mich zurück.“ Aber jetzt war es so: Gestern die MS-Diagnose und heute einen Suizid mit angeguckt. Da habe ich dann wirklich kapituliert und gesagt, dass ich nicht weiterweiß und zu meiner Frau gesagt: „Am liebsten würde ich auch springen, weil ich überhaupt keine Ahnung habe, wie es jetzt weitergehen soll.“ Und dann kam der Pfleger vom Frühdienst und sagte: „Alle, die bei uns an so etwas beteiligt sind, bekommen das Angebot mit dem Seelsorger zu sprechen. Wenn Sie das möchten, hätten wir gerne, dass sie mit dem Krankenhaus-Seelsorger sprechen.“ Da habe ich gedacht: „Okay, es ist eh alles schon zu Ende, zu spät, da kannst du auch mit dem Krankenhaus-Seelsorger sprechen.“ Der Seelsorger kam dann vormittags und hat mich in sein Büro bugsiert, hat mir einen Kaffee gegeben und mich dann gefragt, wie es war. Da habe ich schon für mich gedacht: „Mein Gott, Martin, das war’s. Dein ganzes Leben liegt in Scherben, denn du sitzt im Krankenhaus und redest ernsthaft mit dem Krankenhaus-Pfarrer über deine Probleme.“ Ich dachte, das sei etwas für Omis, denen langweilig ist. Aber das war jetzt auf einmal mein Strohhalm, an dem ich mich festklammerte. Und dann holte er ein rotes Holz-Männchen aus seiner Hosentasche, legte es auf den Tisch und sagte: „So, das ist jetzt der Mann, der sich umgebracht hat. Und sie sagen dem jetzt einfach, was sie ihm alles sagen wollen, was sie wütend macht, was sie jetzt bedrückt, was sie stört und was sie an ihn noch loswerden wollen, auch wenn sie es in Wirklichkeit nicht mehr können.“ Und dann habe ich mich der roten Holz-Märchenfigur gegenüber so richtig ausgekotzt und habe wirklich gesagt, wie sauer ich bin, dass ich jetzt das auch noch am Hals habe. Und, dass ich wirklich fix und fertig und am Ende bin, was ich zum Teil auch ihm zu verdanken hätte und auch, dass ich wütend bin. Als ich dann damit zu Ende war, habe ich gedacht: „Okay, das ist jetzt entweder der Anfang des Wahnsinns, weil du mit einer roten Holzfigur redest, als ob sie echt wäre, oder es hilft wirklich.“ Und dann habe ich gemerkt, dass es mir geholfen hat. Das hat eine Spannung in mir gelöst. Ich konnte meine Wut ausdrücken und diese Wut einfach dieser Figur mitgeben. Dadurch habe ich gelernt, dass ich nicht alles selbst lösen kann. Man selbst kennt nicht alle Tricks und im Zweifelsfall tut’s ein Holz-Männchen oder jemand anderes, der solche Tricks draufhat, der dir damit auch helfen kann. Ich bin dann zwar wirklich leer und traurig da herausgegangen, aber ich wusste, ich muss nicht alles allein mit mir selbst ausmachen, sondern kann mir auch immer einen Profi suchen, wenn ich jemanden finde, der mir besser hilft, als ich mir selbst je helfen könnte.
Angy [00:17:18] Das ist ja auch eine spannende Erkenntnis, die du dann direkt im Anschluss gewonnen hast. Wie oft warst du dann bei diesem Seelsorger, so wie du ihn gerade genannt hast?
Martin [00:17:30] Bei dem Seelsorger war ich dann nach dem ersten Gespräch noch einmal, weil er zu mir sagte: „Sie meinten, Sie hätten diesen Mann davon abhalten müssen zu springen, nein, hätten sie nicht. Das ist nicht ihre Aufgabe. Er wollte springen und Sie hätten das nicht ändern können.“ Ich sagte, dass ich etwas hätte tun müssen, aber stattdessen einfach nur daneben gesessen und mich schlecht gefühlt hätte, weil ich nicht eingegriffen hatte. Dann kam der Seelsorger am nächsten Tag noch mal und hat gesagt: „Ich habe den Abschiedsbrief gelesen von dem, der sich umgebracht hat. Und er hat geschrieben, dass er total depressiv war und er so nicht weiterleben wollte. Er hat sich von seinen Kindern und von seiner Familie verabschiedet in dem Brief. Sehen Sie, er wäre so oder so gesprungen, wenn Sie ihn heute festgehalten hätten, wäre er morgen gesprungen. Es ist nicht Ihre Schuld und Sie müssen gar nichts.“ Das ist dann auch ein Satz, den ich mir durch meine ganze Zeit mit MS behalten habe. Ich muss gar nichts. Man ist zu nichts verpflichtet. Man wird von niemandem gezwungen. Man muss nicht. Und das war jetzt zumindest mal ein Anfang, ein Lichtblick am Ende eines Tunnels, aus dem ich noch lange nicht draußen war.
Angy [00:18:45] Genau an diesem Punkt möchte ich nämlich jetzt auch anknüpfen. Nach all diesen Ereignissen, die da so Schlag auf Schlag passiert sind, nach all dem, was du da erlebt hast – wie ist es dir dann gelungen daraus irgendwann eine positive Sicht, sowohl auf die Erkrankung als auch auf die Zukunft, zu gewinnen?
Martin [00:19:07] Das war am Anfang relativ schwierig, denn als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war die Erkrankung eigentlich genauso schlecht wie vorher. Nachdem MS diagnostiziert wurde, sagte man mir, es sei eine ambulante Erkrankung. Das könne ein niedergelassener Neurologe behandeln. Damit wurde ich dann, einen Tag nachdem das alles passiert war, entlassen. Zum Glück hat mir der Chefarzt noch einen guten Neurologen gesucht, bei dem ich dann einen Tag später saß. Der hat sich dann alles angeguckt und gesagt: „Ja, das ist MS.“ Und sagte dann, es läge ja schon einiges vor. Er besorgte sich noch ein paar Laborbefunde und meinte: „Dann fangen Sie am besten jetzt gleich eine Therapie an.“ Dann sagte ich, ich würde sofort alles nehmen, weil ich wusste, dass ich eine schwere Krankheit habe. Da wollte ich auch eine Therapie haben. Ich wollte natürlich nicht warten, dass sich irgendetwas verschlechtert, sondern mir war klar, je früher und je stärker man das behandelt, desto mehr meiner Fähigkeiten erhalte ich vielleicht zurück und desto besser wird es mir gehen. Dann hat er mir eine Therapie aufgeschrieben, da musste man sich selbst täglich eine Spritze geben. War für mich jetzt kein Problem, als Diabetiker hatte ich schon Insulin gespritzt. Der Neurologe sagte: „Sie haben dann noch mal einen Termin bei einer MS-Nurse, die Ihnen das erklärt.“ Und ich wollte schon sagen, dass ich das nicht brauche, weil ich schon so viele Ärzte gesehen hatte. Ich wollte nicht nochmal zu einer neuen Ärztin. Aber er meinte: „Die will sie jetzt auch gleich sprechen.“ Dann kam die MS-Nurse ans Telefon und sagte: „Hallo Herr Praast, ich habe schon einen Zwei-Stunden-Termin mit Ihnen ausgemacht.“ Ich dachte: „Oh nein! Du hast innerhalb von zwei Wochen schon so viele Ärzte im Krankenhaus gesehen. Jetzt kommt noch diese Frau und ich weiß gar nicht, was die von mir will. Die möchte mich jetzt wahrscheinlich zwei Stunden zuquatschen.“ Dann bin ich, mit meiner Frau im Schlepptau, weil sie ja wegen ihres Berufes mehr von dem Thema versteht als ich, zu dem MS-Nurse-Termin gegangen. Dort musste ich noch einmal meine ganze Geschichte erzählen. Ich habe mich dann schon gefragt, wieso ich das schon wieder muss. Normalerweise sind Ärzte ja immer professionell empathisch. Sprich, egal wie schlecht es einem geht, von Ärzten hört man immer: „Ja, da kann man was machen.“ oder „Das ist ja nicht so schlimm.“ oder „Da gucken wir mal.“ Aber meine MS-Nurse sagte: „Oh, das ist aber scheiße.“ Da war ich dann erstens schockiert über die Wortwahl und zweitens dachte ich: „Nein, sie hat recht. So geht es mir auch. Genau das trifft es, ja.“ Dann habe ich gedacht, dass ich bei ihr doch ganz gut aufgehoben bin. Sie hat mir anschließend erklärt, wie meine Therapie funktioniert. Als wir wieder gegangen sind habe ich zu meiner Frau gesagt: „Die Frau ist nett, aber was soll die jetzt machen? Ich spritz mir da meine Therapie und alles andere läuft von allein.“ Meine Frau sagte nur: „Die Ärztin ist gut. Ich weiß das. Sie ist gut.“ Ich dachte mir dann: „Okay, 30 Jahre lang Krankenschwester-Erfahrung. Wenn meine Frau sagt, dass die MS-Nurse gut ist, dann wird es so sein.“ Und ihre erste Bewertung fand ich ja auch sehr treffend. Also habe ich mir die Handynummer geben lassen, bin nach Hause gegangen und dann passierte erstmal nichts. Ich musste mir diese Spritzen geben und dann hieß es, es könne ein paar Monate dauern, bis die Spritzen anschlagen würden. Aber die Taubheit stieg immer höher. Inzwischen war sie bei meinem Brustkorb angekommen. Ich konnte nicht mehr richtig auf Toilette gehen, meine Fingerspitzen wurden taub und ich bekam Physiotherapie. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich sei auf einer schiefen Ebene, auf dem Weg abwärts, und jeden Tag ging es mir ein bisschen schlechter, trotz Therapie. Egal, was ich machte, egal wie positiv ich versuchte in die Zukunft zu gucken. Die klare Marschrichtung war, es geht bergab, egal was passiert. Dann kam auch noch die Cortison-Behandlung, um das zu stoppen. Es hat alles nicht so richtig funktioniert. Es war Frühjahr/Sommer und ich war nur noch verzweifelt. Inzwischen war ich auch bei einer Psychologin gewesen und hatte versucht, das mit ihr aufzuarbeiten, dieses Gefühl, es könnte nur noch in eine Richtung gehen, dass ich nichts mehr positiv empfinden könnte, ich nur noch Angst hätte und die Angst mir alles nehmen würde, was ich habe. Das hat auch ein Stück weit funktioniert. Ich konnte dieses Gefühl mal mehr, mal weniger gut ausblenden. Irgendwann klingelte das Telefon. Meine MS-Nurse rief an und sagte: „Wir möchten, dass du nach Würzburg ins Krankenhaus gehst.“ Das ist von Darmstadt eine Ecke weit weg. Und ich fragte: „Wieso soll ich nach Würzburg ins Krankenhaus?“ Daraufhin entgegnete sie, dass es dort Spezialisten gäbe, die wichtig für eine Zweitmeinung wären und, dass sie dort nach Alternativen zu meiner Therapie suchen würden. Inzwischen war ich so weit, dass ich alles gemacht hätte, nur um eine Verbesserung zu erzielen. Oder wenigstens einen Stillstand. Ich bin dann nach Würzburg ins Krankenhaus gegangen. Der Professor dort sagte dann: „Wir haben eine andere Therapie für Sie. In sechs Monaten sind ihre Symptome alle weg.“ Das habe ich ihm wirklich nicht geglaubt, bin aber im Juli ins Krankenhaus, bekam eine Infusion und dann tatsächlich, peu à peu, gingen alle Symptome langsam wieder zurück. Das war der Punkt, an dem ich gemerkt habe: „Du bist nicht mehr auf einer schiefen Ebene abwärts, sondern aufwärts.“ Ab da sind mein Optimismus und mein Lebensmut wieder zurückgekommen. An diesem Punkt habe ich mir wieder gesagt: „Jetzt lohnt es sich, intensiv zu leben, alles mitzunehmen, denn ich kann noch alles. Und jetzt will ich alles, was ich bisher auf die lange Bank geschoben habe, machen.“
Angy [00:24:53] Welchen Beitrag haben dann zusätzlich die psychologische Unterstützung und deine MS-Nurse geleistet?
Martin [00:25:02] Meine MS-Nurse war für alles Organisatorische und Praktische zuständig. Ich muss sagen, sie ist wirklich das Zentrum meiner MS-Behandlung, denn sie kümmert sich nicht nur um alle organisatorischen Sachen, sondern kennt mich auch sehr gut. Wenn sie mich anguckt, weiß sie, ob es mir gut oder schlecht geht. Bei ihr bin ich auch eher bereit, alles auf den Tisch zu legen, anders als bei meinem Arzt zum Beispiel. Ich hoffe, dass sie es anspricht, sollte sie irgendeine Veränderung an mir bemerken, und dann nach Lösungen dafür sucht. Ich konnte mich bisher gut auf sie verlassen. Es ist auch relativ schwierig, denn man muss Rezepte haben, Verordnungen, Krankengymnastik, Ergotherapie. Bei Arztpraxen, die nicht darauf spezialisiert sind, kann das sehr, sehr kompliziert werden. Da gibt es den üblichen Dreiklang aus: „Das haben wir noch nie so gemacht.“ oder „Das können wir nicht.“ oder „Das dürfen wir nicht.“ Bei meiner MS-Nurse ist es so, dass sie mich fragt: „Was kann ich noch für dich tun?“ Beim ersten Mal habe ich gedacht, dass ich mich verhört habe, weil mich noch kein Arzt gefragt hat, ob er noch etwas für mich tun kann. Aber das ist so eine Erleichterung. Da fällt dieser ganze organisatorische Druck dieser Krankheit ab und das gestaltet den Umgang mit der MS wesentlich leichter. Zusammen mit einer funktionierenden Therapie merkt man dann wirklich, dass die MS keine Einbahnstraße ist, sondern, dass man wieder zu einer Normalität zurückfinden kann und das bringt natürlich eine ganz große Motivation.
Angy [00:26:36] Das freut mich sehr zu hören, dass es auch wieder Licht am Ende des Tunnels gibt. Gibt es noch andere Therapien, die dir in der Zeit geholfen haben?
Martin [00:26:47] Ich mache jetzt immer noch zwei Therapien. Das eine ist Physiotherapie, was sehr viele Leute mit MS machen. Das andere ist Ergotherapie, was nicht ganz so verbreitet ist. In der Physiotherapie versuche ich einfach meine körperlichen Fähigkeiten zu erhalten und mein Gleichgewicht zu trainieren und ich muss sagen, dort lerne ich jede Woche auch noch etwas dazu. Am Anfang dachte ich, dass ich nicht krank genug sei und deshalb vielleicht fehl am Platz wäre. Meine Physiotherapeutin hatte mir gesagt: „Nein, das ist schon richtig so. Du kannst dir hier jetzt ein Polster für die Zeit erarbeiten, in der es dir vielleicht mal nicht so gut geht. Dann kannst du davon zehren.“ Und dann zum Beispiel Slackline, da wollte ich nie drauf. Denn was soll ein großer, dicker Mann auf einer Slackline? Da hat sie zu mir gesagt: „Ich betreue einen 80- jährigen Mann mit Parkinson, der läuft da auch drüber.“ Und ich sagte: „Wie der läuft da drüber?“ Sie sagte, der könne das auch. Jetzt übe ich mittlerweile seit zwei Jahren und schaffe zwar erst zwei Schritte, aber ich gehe auf der Slackline und das ist für mich ein Riesenerfolg. Auch, wenn es nur zwei Schritte sind. Das ist das, was Physiotherapie für mich ausmacht: Fortschritte, auch wenn es nur kleine sind. Das Andere ist Ergotherapie. Da wollte ich eigentlich nie hin. Das waren für mich immer so Bastel-Tanten, die irgendwelche Bildchen malen. Leider wurden meine kognitiven Probleme jetzt nicht gerade weniger und dann dachte ich mir: „Allein bekommst du das nicht in den Griff.“ Ergotherapie bedeutet auch Hilfe bei kognitiven Problemen. Folglich bin ich zur Ergotherapie gegangen und finde mich da jede Woche in einem großen Kinderspielplatz wieder, inklusive Kletterwand, Lego, Playmobil, Piratenschiff. Dort gibt es alles, was das Kinderherz begehrt und ich finde es ganz lustig da. Ich setze mich inzwischen gern an die Werkbank, arbeite vor mich hin und habe jetzt, als Krönung von meiner langjährigen Ergotherapeutin, ein rosa Pappmaschee Schwein gebastelt. Das finden viele jetzt vielleicht lächerlich, aber ich kann allen sagen, auch wenn Achtsamkeitstraining, Yoga etc. gut wirken, aber nichts zieht euch so gut aus dem Alltag raus, wie das Basteln eines rosa Pappmaschee Schweins, denn da denkt ihr an nichts anderes mehr.
Angy [00:29:08] Ja, vorhin hast du ja gesagt, dass du dadurch gelernt hast, andere, die sich eben mit bestimmten Dingen besser auskennen als du, nach Unterstützung zu fragen und, dass dich das letztendlich in irgendeiner Form entlastet.
Martin [00:29:24] Genau, das ist dann das Aufgabenfeld der Psychotherapeutin, die wirklich in die persönliche Krankheits-Bewältigung eingreift und einem dann auch wirklich unvoreingenommen widerspiegelt, was man über die Krankheit denkt und erzählt. Und sie sagt einem dann auch, an welchen Stellen man das nicht so gut macht und wo man sich noch verbessern kann.
Angy [00:29:52] Ich bin immer noch ganz baff von dem, was du da gerade erzählt hast und muss jetzt irgendwie mal gucken, wie wir hier die Brücke zu unserem Hauptthema wiederfinden.
Martin [00:30:01] Da kann ich schon mal alle beruhigen. Das war das Schlimmste und jetzt wird’s besser!
Angy [00:30:05] Okay, das ist gut. Vielen Dank, denn wir wollten ja heute auch darüber sprechen, dass es sehr, sehr viele unsichtbare Symptome bei der MS gibt und, dass diese unsichtbaren Symptome häufig dazu führen, dass Menschen im Umfeld von MS-Betroffenen die Schwere der MS-Diagnose nicht verstehen oder sogar hinterfragen. Das führt dann teilweise dazu, dass man sich als Betroffener erklären muss. Und da stellt sich mir die Frage: Welche unsichtbaren Symptome sind denn bei dir präsent?
Martin [00:30:46] Das Leitsymptom bei mir ist sicherlich diese Taubheit oder Miss-Empfindung des Körpers, was in den Beinen anfing und sich dann bis zum Brustkorb hochgezogen hat. Gerade bei den Beinen ist es ein bisschen blöd, weil man dann nicht genau weiß, wo befindet sich das eigene Bein und wie hoch hebt man es gerade? Hebst du es über die Wurzel? Oder hebst du es gegen die Wurzel und stolperst dann? Das Gleichgewicht ist vielleicht auch nicht immer so ganz auf der Höhe, aber das tut eigentlich auch nicht richtig weh. Bei anderen Leuten macht es dann aber auch richtig Schmerzen und erzeugt zum Beispiel ein Brennen. Bei mir war das dann eben diese Missempfindung, die sehr störend ist, weil man immer eine Schere hat zwischen dem, wie es sich im Kopf anfühlen sollte und wie es sich in Wirklichkeit anfühlt. Es ist ziemlich anstrengend, sich so zu fühlen – als sei das eigene Bein in Watte eingepackt, obwohl es das nicht ist. Das ist mein Hauptsymptom. Aber meine schlimmsten nicht sichtbaren Symptome, sind eigentlich die seltenen Symptome. Ich hatte halbseitiges Schwitzen und halbseitige Gänsehaut und das kam immer aus dem Nichts. Ich habe zum Beispiel am Tisch gesessen und auf meinen linken Arm geguckt, auf dem ich eine Gänsehaut hatte, während der rechte Arm ganz normal war. Und das tut keinem weh. Das sieht man auch nur, wenn man ganz genau hinguckt. Das waren aber trotzdem die Symptome, die mir am allermeisten Angst gemacht haben, weil ich dachte: „Jetzt hast du die Kontrolle über deinen Körper komplett verloren. Jetzt macht er, was er will und kann.“ Daran hatte ich lange zu knabbern – an diesem Gefühl, die Kontrolle über meinen Körper verloren zu haben.
Angy [00:32:29] Welche Auswirkungen haben denn diese gerade beschriebenen unsichtbaren Symptome auf die Gestaltung deines Lebens gehabt?
Martin [00:32:39] Die Symptome sind ja zum Glück mehrheitlich zurückgegangen. Sie kommen aber gerne in Extremsituationen wieder zurück. Eine Extremsituation ist zum Beispiel große Hitze – da gibt es das Uthoff Phänomen. Da kann ich den Wetterbericht gucken und wenn ich sehe, dass für die nächsten zwei Wochen 35 Grad angesagt sind, weiß ich: „Okay, dann plane ich jetzt hier keine sportlichen Großtaten oder grabe irgendwie den Acker um.“ Dann muss ich mein Leben wirklich nach den Außentemperaturen richten. Das lernt man dann schon. Eine andere Extremsituation ist Stress. Symptome stehen ganz oft auch mit Stress in Zusammenhang. Je stressiger es wird, desto stärker kommen auch die Symptome wieder. Das ist immer ein Warnzeichen: Wenn die Symptome stark zurückkommen, dann hat man wahrscheinlich etwas falsch gemacht. Dann muss man sich die Frage stellen: „Was kann ich dagegen tun?“ Es ist nicht immer so einfach. Man kann Stress auf der Arbeit nicht immer umgehen. Oder privater Stress, da wird es dann noch schwieriger. Das ist auch Stress, der deutlich tiefer nagt. Wenn es sich zum Beispiel um Streit innerhalb der Familie, private Probleme oder Stress mit Freunden handelt. Da kann man nicht ohne Weiteres sagen: „Das lösche ich jetzt aus meinem Kopf wie eine E-Mail.“ Das simmert dann im Untergrund leise vor sich hin und man merkt es an seinen Symptomen.
Angy [00:34:02] Jetzt stell dir mal vor, du triffst auf einen Außenstehenden, der noch nie etwas von Multipler Sklerose gehört hat. Wie könntest du denn diesem Menschen deine unsichtbaren Symptome beschreiben, dass dieser es in irgendeiner Form verstehen und nachvollziehen kann?
Martin [00:34:23] Da muss ich immer schauen, wen ich vor mir habe. Wenn ich eine Frau vor mir habe, die schon einmal schwanger war und eine PDA hatte, dann sage ich ihr, dass sich die MS so anfühlt, als wären ihre Beine wie damals betäubt. Man spürt nämlich nichts mehr und das verstehen die meisten, weil sie dieses Gefühl kennen. Ansonsten vergleiche ich diese Missempfindung mit einem eingeschlafenen Bein oder Arm, weil das ja jeder schon mal erlebt hat. Ich sage dann, dass sich die MS so anfühlt, nur, dass das Gefühl des Eingeschlafenseins nicht aufhört. Andere Symptome, wie das halbseitige Schwitzen oder meine Störung des Kälte- und Wärmeempfindens, durch das sich für mich Eiswürfel heiß anfühlen, kann man ganz schlecht plastisch darstellen. Und das ist auch das Problem, weshalb viele Leute diese Symptome einfach nicht verstehen: Sie sind eben nicht greifbar.
Angy [00:35:14] Sie heißen ja nicht umsonst unsichtbare Symptome. Sie sind eben für Außenstehende fast unsichtbar. Wo liegt denn die Herausforderung im Umgang mit anderen Menschen, die vielleicht nicht wissen, dass du diese Krankheit hast?
Martin [00:35:29] Man muss versuchen, es vorsichtig zu erklären. Klar ist es schwierig. Zum Beispiel gibt es das Symptom Fatigue – das ist eine Dauer-Ermüdung, die mal stärker und mal schwächer ist. Eine Fatigue ist eben keine Müdigkeit, wie bei jemandem, dem es nach zwei Stunden Mittagsschlaf dann wieder besser geht. Die Fatigue kann dich zwei Tage komplett lahmlegen und das ist das, was dann viele nicht mehr verstehen. Müdigkeit ist bei mir eine Fatigue, die eben nicht mit zwei Stunden Mittagsschlaf behoben werden kann. Viele sagen dann: „Das kenne ich auch, ich bin auch manchmal müde. Du musst dich einfach ausruhen, dann geht es wieder.“ Nein, das geht eben nicht. Das ist eben das Problem. An diesem Punkt kommen viele nicht mehr mit, weil sie einfach sagen: „Ich kann mir das nicht vorstellen.“ oder „Der ist einfach nur faul und schläft gerne.“ Da wird es dann ganz kompliziert, die Leute im Boot zu behalten, wenn man sagt, dass das eine Krankheit ist, die einen so müde werden lässt, dass man nicht mehr kann. Das liegt nicht daran, dass ich mich ungesund ernähre, zu wenig Sport mache oder mich nicht genug ausruhe. Es ist einfach Teil der MS. Je nach Persönlichkeit gibt es dann Leute, die sind einsichtig, offen und respektvoll. Andere haben Vorurteile, die man zum Teil auch gar nicht ausmerzen kann.
Angy [00:36:57] Wie geht es dir denn dann in solchen Situationen? Vor allen Dingen dann, wenn Menschen dir, wie du gerade erzählt hast, ungefragt irgendwelche Ratschläge geben?
Martin [00:37:07] Früher habe ich mich sehr aufgeregt, muss ich ehrlich sagen, über ungefragte Ratschläge. Aber vor allen Dingen auch über eine schnelle Einordnung mit Vorurteilen. Und jeder kennt ja jemanden dann, der auch MS hat und der dann dies und jenes gemacht und beim Schamanen gewesen ist oder sich Heil-Steine aufgelegt hat. Also man wird mit kruden Ratschlägen geradezu beworfen. Am Anfang ist das schon schlimm, weil man immer denkt, man müsse etwas entgegnen: „Nein, das ist nicht so!“ Aber ich bin ja nicht der Missionar meiner Erkrankung. MS ist nur ein Teil von mir, aber ich bin kein Stellvertreter für die MS. Ich muss damit leben. Und ich habe mich entschlossen, dass ich mir meine Energie für die Leute aufhebe, von denen ich glaube, dass ich mit ihnen sprechen und ihre Vorurteile abbauen kann. Aber gegen Menschen, die fest in ihren Vorurteilen und Meinungen feststecken, lohnt es sich nicht anzukämpfen. Da spare ich mir meine Energie lieber für etwas anderes auf, denn so viel Energie habe ich dann auch nicht.
Angy [00:38:14] Das heißt, du hast heute deinen Umgang mit solchen Situationen gefunden. Hast du denn noch einen Tipp für Menschen, die ihre Diagnose erst vor kurzem bekommen haben und sehr wahrscheinlich in Zukunft auch mit solchen Dingen konfrontiert werden?
Martin [00:38:31] Ja, wie man hier in Hessen sagt: „Net Uffreesche.“ Es ist ganz schwierig, denn man wird mit Falschaussagen beworfen über eine Krankheit, die einen selbst nun ein Leben lang begleiten wird. Oft weiß man es selbst als frisch Diagnostizierter schon besser als andere. Und dann kommen jeden Tag fünf Leute zu dir, gerade nach der frischen Diagnose, und meinen, sie täten etwas Gutes, wenn sie ihre Ratschläge verteilen. Wenn man alle Ratschläge befolgen würde, würde man höchstens direkt wahnsinnig werden, aber es würde einem nicht besser gehen. Am Anfang muss man wirklich ein dickes Fell entwickeln und sich selbst sagen: „Ich gehe meinen Weg. Ich halte mich an das, was der Arzt sagt, meine MS-Nurse, meine Therapeuten und ich gehe mit ihnen diesen Weg und lasse mich nicht von Ratschlägen ablenken.“ Das ist am Anfang ganz schwer, weil man sich immer ungerecht behandelt fühlt, aber es ist das Einzige, was einem wirklich hilft.
Angy [00:39:32] Stell dir vor, jemand geht auf dich zu und kommt mit dir ins Gespräch. Was für ein Verhalten würdest du dir von deinem Gegenüber wünschen, speziell dann, wenn das Thema MS aufkommt?
Martin [00:39:44] Ein offenes, respektvolles Verhalten. Wenn ich dieser Person sage, dass ich MS habe, würde ich mir wünschen, dass der erste Satz nicht etwas ist wie: „Die Tante von meiner Mutter hat auch MS.“ In diesem Szenario gibt es dann noch zwei Möglichkeiten. Entweder: „Der geht’s aber total super.“ Oder: „Die liegt daheim und kann gar nichts mehr machen.“ Das wäre so das klassische Gespräch, das ich mir nicht wünschen würde – das ich aber schon ganz oft führen musste.
Angy [00:40:06] Hast du vielleicht noch einen Tipp für Menschen, die mal in so ein Gespräch hineinstolpern? Was könnten die dann sagen oder machen, um Betroffenen die Situation zu erleichtern?
Martin [00:40:17] Das hängt sehr vom Betroffenen ab und, was genau die betroffene Person gerade mit wem bespricht. Ich bin da inzwischen am Zynismus angekommen. Wenn jemand kommt und zu mir sagt: „Oh, du siehst aber gut aus! Man sieht ja gar nicht, dass du MS hast.“ Dann sage ich meistens: „Ja, heute habe ich einen guten Tag. Sonst liege ich im Pflegeheim.“
Angy [00:40:39] Oh, okay.
Martin [00:40:44] Man kann einfach nicht mit 100 Leuten dieses Gespräch ernsthaft führen. Man kann versuchen den Menschen etwas von Verläufen und Schüben etc. zu erklären. Das macht man bei den ersten 20 Menschen, die einen darauf ansprechen zwar noch, aber irgendwann denkt man sich nur noch: „Nein, bitte nicht mehr. Ich kann nicht mehr.“ Und je nachdem, wie blöd derjenige dann fragt, umso blöder ist leider auch meine Antwort. Aber natürlich, wer mich nett fragt, bekommt auch eine nette Antwort. Nicht, dass ich jetzt den falschen Eindruck vermittele.
Angy [00:41:12] Das wäre auch meine nächste Frage gewesen: Hast du vielleicht noch eine zusätzliche Methode oder Strategie entwickelt, um mit Reaktionen auf die MS umzugehen, die du auch gerne mit Betroffenen teilen möchtest – außer dem Zynismus?
Martin [00:41:28] Ja. Also am Anfang ist meine erste Aussage immer: Nicht googeln! Denn es ist sehr schwer, wenn man etwas googelt, um etwas wirklich Wichtiges über sich selbst herauszufinden, aber Google dann nur ganz schlimme oder ganz falsche Sachen ausspuckt. Es ist besser sich immer an Profis zu wenden, egal was man hat. Wenn die Psyche nicht funktioniert, dann geht zum Psychotherapeuten. Fragt euren Neurologen, fragt eure MS-Nurse, fragt nach Infomaterial von großen Webseiten – haltet euch lieber daran. Geht nicht in Foren und fragt nicht irgendwelche Menschen in eurem Umfeld. Das sind alles keine Profis und dementsprechend fallen meistens auch ihre Antworten aus. Deswegen wählt vielleicht ein, zwei Webseiten, den Neurologen, die MS-Nurse und dann reicht es für den Anfang auch schon. Man sollte sich dann auch einfach Zeit geben und Ruhe bewahren. Eine MS hat man sein ganzes Leben lang. Die muss man nicht in einer Woche verstehen, nicht in einer Woche bekämpfen und nicht in einer Woche niederringen. Dazu hat man sein ganzes Leben lang Zeit. Man muss also nicht anfangen in Panik zu verfallen.
Angy [00:42:42] Also dein Fazit ist auf jeden Fall: Fachinformation und Fachleute, an die man sich wenden kann, sind wichtig.
Martin [00:42:49] Genau.
Angy [00:42:51] Wie gut ist denn die Gesellschaft über MS und all ihre verschiedenen Symptome und Verläufe informiert. Wie erlebst du das?
Martin [00:43:04] Man kann schon froh sein, wenn die Leute die MS nicht für Muskelschwund halten. Das ist ja tatsächlich ein sehr gängiges Vorurteil. Ehrlich gesagt glaube ich, dass von der MS nicht viel in der Gesellschaft angekommen ist. Ich hätte ohne meine eigene MS auch nicht viel Ahnung davon gehabt. Ich erlebe es auch oft, dass Leute wirklich gar nichts davon wissen und wenn sie was wissen, ist es ist in der Regel nur, dass es nicht gut ausgeht. Das heißt, das ganze Wissen von der MS ist schon sehr dramatisch behaftet und oft auch falsch. Man kann natürlich der Gesellschaft keinen Vorwurf machen, dass sie nicht über alle chronischen Krankheiten in diesem Land vollständig informiert ist. Das Einzige, was ich mir von der Gesellschaft mehr wünsche, ist ein offener Umgang mit dem Thema. Sprich, dass man nicht einfach bei seinen Vorurteilen bleibt, sondern, wenn man die Chance hat, mit Betroffenen zu sprechen, man diesen offen begegnet und nicht sofort sagt: „Ja, Malu Dreyer hat ja auch MS und sie ist die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz.“ Ich wünsche mir, dass man Menschen mit MS wirklich die Chance gibt, von sich selbst und seiner MS zu sprechen. Es ist wichtig, dass die Leute dann auch einsehen, dass die Krankheit mit den tausend Gesichtern auch tausend verschiedene Verläufe hat und man das deshalb nicht über einen Kamm scheren kann.
Angy [00:44:22] Daraus höre ich, es geht dir auch um das Thema Sensibilität im ganzen Umgang mit der MS.
Martin [00:44:26] Man kann nicht wirklich erwarten, dass jemand da voll informiert ist. Das, denke ich, wäre zu viel verlangt.
Angy [00:44:32] Was könnte man denn vielleicht noch tun, um mehr über diese unsichtbaren Symptome zu informieren oder die Menschen zu sensibilisieren?
Martin [00:44:40] Es ist gut, dass es konzertierte Aktionen gibt, wie den Welt-MS-Tag, denn dadurch kommt eine Krankheit auch in das Bewusstsein der Menschen. Sonst ist das Thema ja recht unterschwellig. Am Welt-MS-Tag gibt es dann auch Zeitungsartikel, Aktionen und dadurch kommt es dann eben auch in das Bewusstsein der breiten Allgemeinheit, wo es sonst eigentlich nicht hinkommt. Normalerweise sind wirklich nur die Betroffenen und vielleicht auch noch deren Angehörige involviert. Deswegen finde ich es gut, wenn man so eine konzertierte Aktion nutzt, um einfach mal ein bisschen mehr Aufmerksamkeit für dieses Thema zu schaffen und an diesem Tag darüber zu informieren. Und wer auch immer an dem Thema hängen bleibt, weil er es interessant findet, der hat dann jede Möglichkeit sich weitere Informationen zu holen. Deshalb empfinde ich das für den Anfang schon als einen Schritt in die richtige Richtung.
Angy [00:45:28] Jetzt sind wir auch schon fast am Ende unserer Folge, lieber Martin. Deswegen möchte ich gerne abschließen mit der Frage: Wie schaffst du es konkret dein Leben mit MS positiv zu gestalten? Wie meisterst du die täglichen Hürden des Alltags?
Martin [00:45:44] Ich schaffe das meistens, indem ich der MS nicht zu viel Raum gebe. Ich bin nicht die MS. Die MS ist nur ein Teil von mir und im besten Falle ist die MS nicht mein Drachen, sondern nur ein Schoßhündchen und ich versuche es auch bei diesem Zustand zu belassen. Klar habe ich Einschränkungen. Ich kann zum Beispiel nicht mehr acht Stunden am Tag körperlich hart arbeiten. Wann immer die Herausforderung auf mich zukommt, ist es natürlich schöner zu sagen „Ja klar, ich helfe. Ich kann dieses oder jenes machen.“, anstatt „Nein“ zu sagen. Wenn zum Beispiel jemand umzieht, könnte ich mich hinstellen und Umzugskartons schleppen. Dann wäre ich aber nach 10 Minuten fix und fertig und keinem wäre geholfen. Alle wären sauer auf mich, weil ich nicht mehr so viel tragen könnte und die anderen mehr tragen müssten. Deshalb sage ich: „Ich nehme die Kinder, gehe mit ihnen auf den Spielplatz, gehe zum Metzger und kaufe für alle belegte Brötchen.“ Und am Ende sind die Kinder aus dem Haus raus, alle haben belegte Brötchen und im besten Fall sitze ich dann den ganzen Tag auf der Schaukel, mit einem Brötchen in der Hand und trotzdem sind alle glücklich. So geht man positiv mit MS um!
Angy [00:46:54] Vielen herzlichen Dank, Martin! Es hat mir total Freude gemacht, heute mit dir zu sprechen. Vielen Dank für deine Offenheit und, dass du dir die Zeit genommen hast. Und dann sage ich schon mal Tschüss an dich.
Martin [00:47:05] Ich sage auch schon mal Tschüss und gerne geschehen!
Angy [00:47:07] Vielen Dank! Wir hoffen, dass euch diese Folge gefallen hat und ihr einige Tipps für den Umgang mit den unsichtbaren Symptomen der MS mitnehmen konntet und freuen uns, wenn ihr bei der nächsten Folge wieder dabei seid. Alles Liebe und bis bald.
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