Folge 20: Unsichtbare Symptome – Fatigue bei MS

Herzlich Willkommen, Jenni! Vorstellung und Einführung in das Thema: Umgang mit unsichtbaren Symptomen wie Fatigue.

Angy [00:00:00] Herzlich willkommen zu „Sprich’s aus! Bei MS“. Mein Name ist Angy Caspar und gemeinsam mit meinen Gästen sprechen wir in diesem Podcast über die Krankheit der 1000 Gesichter. Hör rein, wenn du mehr über ihre inspirierenden Geschichten und Erfahrungen zu dem Umgang mit der Erkrankung im Alltag erfahren möchtest. Denn bei MS kann man eine Menge machen. Viel Freude beim Zuhören!

Angy [00:00:32] Herzlich willkommen zu unserer neuen Folge von „Sprich’s aus! Bei MS“. Ich freue mich, dass ihr wieder dabei seid. In diesem Podcast sprechen wir über Themen rund um Multiple Sklerose, tauschen Erfahrungen aus und geben Tipps für das Leben mit MS. Heute ist Jenni zu Gast und wir sprechen darüber, wie es ist, mit einer Erkrankung mit teils unsichtbaren Symptomen zu leben und darüber, wie man damit umgeht, dass das Umfeld diese unsichtbaren Symptome der MS, wie zum Beispiel die Fatigue, nicht sehen und oft auch nicht verstehen kann. Und hier ist mein heutiger Gast. Herzlich willkommen, liebe Jenni.

Jenni [00:01:08] Hallo, dankeschön für die Einladung!

Angy [00:01:12] Sehr gerne, ich freue mich sehr, dass du heute dabei bist. Stell dich doch zu Beginn gerne mal vor.

Jenni [00:01:17] Ich freue mich, dass ich dabei sein darf. Hallo an alle. Mein Name ist Jenni. Ich bin 29 Jahre alt – noch, habe jetzt seit fast 10 Jahren Multiple Sklerose. Genau gesagt, habe ich die Diagnose am 26. März 2012 erhalten. Ich bin kaufmännische Angestellte bei einem Netzbetreiber im kleinen Saarland. Und genau dort lebe ich auch mit Kind und Hund.

Was Fatigue für Jenni bedeutet, mit welchen unsichtbaren Symptomen sie noch zu kämpfen hat und welche Tipps und Tricks ihr helfen, besser mit der Fatigue zurechtzukommen.

Angy [00:01:45] Wie schön! Herzlichen Dank für die Vorstellung. Du hast es jetzt gerade schon selbst erwähnt, dass du schon seit fast 10 Jahren mit der MS lebst. Und wie ich auf deinem Instagram Profil lesen konnte, hast du ja vor allem mit der Fatigue und mit Taubheitsgefühlen zu tun. Vielleicht vorab, bevor wir so richtig einsteigen, wäre es schön, wenn du den Zuhörenden mal kurz erklärst: Was ist überhaupt Fatigue?

Jenni [00:02:11] Fatigue ist eine – ich nenne es jetzt einfach mal – Erschöpfung. Ein Erschöpfungszustand, der wirklich auf den Körper und auch auf den Geist schlägt. Es kann sein, dass man nicht mehr wirklich in der Lage ist zu denken. Es kann sein, dass man die Körperteile – Arme und Beine – nicht mehr so unter Kontrolle hat. Es kann auch wie bei der MS allgemein tatsächlich so ziemlich alles betreffen.

Angy [00:02:37] Gibt es denn noch weitere Symptome, die bei dir auftreten und dich im Alltag stark beeinträchtigen? Und wenn ja, welche sind das denn?

Jenni [00:02:46] Bei mir ist es tatsächlich so: Wenn mich diese Fatigue trifft, geht sie meistens einher mit Taubheitsgefühlen. In den meisten Fällen ist die rechte Seite betroffen, also die rechte Körperhälfte – Arm und Bein. Da wird auch schon mal eine Computermaus zum Endgegner.

Angy [00:03:05] Okay, das hört sich jetzt erstmal für mich so an, dass das eher viele unsichtbare Symptome sind. Ist das korrekt?

Jenni [00:03:12] So ist es, genau.

Angy [00:03:14] Okay. Wenn ich das auch so richtig wahrgenommen habe, ist es schon so, dass die Fatigue für dich eines der schwerwiegendsten Symptome ist – also das Symptom, was dich im Alltag am meisten beeinträchtigt. Ist das richtig?

Jenni [00:03:27] Ja, absolut.

Angy [00:03:30] Kannst du vielleicht mal erzählen, wie es dir da im Alltag mit geht und wie du damit zurechtkommst?

Jenni [00:03:36] Es ist tatsächlich – wie bei allem – natürlich sehr Tagesformabhängig. Ich habe nach fast 10 Jahren mittlerweile so meine kleinen Tricks. Ich habe auch einen ganz, ganz tollen Arbeitgeber. Wenn ich dem sage: „Ich brauch jetzt eine Pause“, darf ich die auch machen – egal welche Tageszeit und egal wie lange. Aber das Glück hat natürlich auch nicht jeder. Allgemein, so wirklich verhindern kann man das Ganze eigentlich nicht.

Angy [00:04:06] Du hast jetzt gerade auch so ein paar kleine Tricks angesprochen, die du hast. Ich würde mich total freuen, wenn du da vielleicht so ein, zwei von erzählen könntest.

Jenni [00:04:14] Das ist zum einen wirklich eine Pause zu machen. Also Augen zu, irgendwo hinsetzen oder hinlegen. Und was im Sommer gut ist, gerade bei sehr warmen Temperaturen: Ich habe immer ein kleines Handtuch dabei, das ich dann nass mache und mir in den Nacken lege. Das hilft mir persönlich ziemlich.

Angy [00:04:34] Und sag mal, wie kann man sich das so vorstellen? Ist das so, dass du, sage ich mal, morgens schon aufwachst und vielleicht auch merkst, dass da im Laufe des Tages was kommen kann? Oder kommt es dann auf einmal im Laufe des Tages urplötzlich? Oder gibt es da vielleicht noch irgendwelche anderen Punkte, die das auch fördern, dass die Fatigue sich zeigt?

Jenni [00:04:55] Natürlich, wenn man nachts wenig schläft, klar, dann ist es am nächsten Tag eigentlich schon in Stein gemeißelt, dass so ein Anfall kommt. Ansonsten... Eigentlich kommt es größtenteils wirklich plötzlich. Gerade an Tagen, wenn es stressig ist – auf der Arbeit, privat, was auch immer. Also wenn man viel zu tun hat, dann kommt auch gerne mal die Fatigue vorbei.

Angy [00:05:18] Okay, also kann man oder kannst du zumindest aus deinen Erfahrungen sagen, dass Stress das Ganze so ein bisschen fördert?

Jenni [00:05:25] Ja, definitiv.

Angy [00:05:27] Ich habe ja auch schon mit vielen anderen Betroffenen gesprochen und die beschreiben die Fatigue zum Beispiel so, dass sie sagen, das fühlt sich an, als wäre man vom LKW überfahren worden oder als würde man mit einem halbvollen Akku in den Tag starten. Wie würdest du das denn noch so beschreiben, damit auch die, die wirklich gar keine Ahnung davon haben – und auch vielleicht Bekannte oder Freunde sind von Betroffenen –, das so ein bisschen besser nachvollziehen können?

Jenni [00:05:57] Ich habe das immer ganz gerne so erklärt: Wenn man abends zu viel getrunken und einen Kater hat, genauso fühlt sich die Fatigue teilweise an – nur, naja, ohne was getrunken zu haben.

Angy [00:06:11] Okay, ich glaube, dieses Gefühl können wahrscheinlich sehr, sehr viele Menschen nachvollziehen.

Jenni [00:06:18] Davon gehe ich aus.

Reaktionen aus dem Umfeld, gut gemeinte Ratschläge und wie wichtig offene Kommunikation im Beruflichen und Privaten ist.

Angy [00:06:20] Und jetzt haben wir ja gerade schon gesagt, dass es bei dir so ist, dass es hauptsächlich diese unsichtbaren Symptome sind, mit denen du zu tun hast. Da kann ich mir vorstellen – nehmen wir jetzt mal als Beispiel deine Arbeitskollegen –, dass sie dir das nicht unbedingt ansehen, wenn du zum Beispiel unter Fatigue oder anderen unsichtbaren Symptomen leidest. Wie geht es dir denn damit?

Jenni [00:06:47] Mittlerweile sehr gut, tatsächlich. Ich habe seit Oktober einen neuen Job bei einem neuen Arbeitgeber. Und da habe ich komplett mit offenen Karten gespielt, die wissen alle Bescheid. Beim letzten Arbeitgeber gab es das ein oder andere Gespräch hinter meinem Rücken, von wegen: Die MS ist nur eine Ausrede von mir, die habe ich gar nicht wirklich. Und ja, das habe ich tatsächlich erst Jahre später mitgekriegt.

Angy [00:07:15] Das hört sich sehr hart an. Also für mich jetzt, wenn ich das so höre, wie geht es dir damit, wenn du so etwas hörst? Selbst wenn es vielleicht Jahre später ist.

Jenni [00:07:23] Ich denke, ganz am Anfang hätte mich das tatsächlich sehr verletzt. Aber nach fast 10 Jahren, ganz ehrlich, stehe ich drüber. Es kommt immer drauf an, ob das Menschen sind, die mir was bedeuten, die mir nahestehen. Da hätte es mich mit Sicherheit sehr verletzt. Aber so… dann sollen sie ihre Meinung haben.

Angy [00:07:43] Ja, ich hatte ja gerade die Arbeitskollegen als Beispiel genannt, aber wahrscheinlich kommst du ja auch öfter mal in Situationen, wo du die Leute vielleicht gar nicht oder wenig kennst. Wie ist es da? Wie ist da die Reaktion auf die Fatigue oder andere unsichtbare Symptome?

Jenni [00:08:01] Bisher hatte ich eigentlich keine wirklich schlechten Erfahrungen. Außer vor ein paar Jahren. Das war allerdings ein Schub und hatte mit der Fatigue nichts zu tun. Es kommt halt auch immer drauf an, wie man mich darauf anspricht. Wenn das wirklich interessiert ist, erkläre ich das super gerne. Wenn ich aber merke, dass mir jemand etwas unterstellen will, habe ich eigentlich keine Lust, etwas zu erklären.

Angy [00:08:30] Und es ist ja auch so, dass wir als Menschen – ja, ich sage mal, es ist ja so ein bisschen in uns drin – auch gerne mal ungefragt Ratschläge geben. Und manchmal sind die auch völlig daneben. Inwiefern begegnet dir das?

Jenni [00:08:46] Mittlerweile tatsächlich auch nicht mehr, oder nur noch sehr selten. Vielleicht mal irgendein Kommentar im Internet oder so. Aber natürlich kamen auch von Teilen meiner Familie schon Ratschläge wie „Geh doch mal früher ins Bett“. Ja, das kann ich tun – es hilft nur nichts. Aber ich denke, das hat sich jeder schon mal anhören müssen.

Angy [00:09:11] Du hast ja gesagt, dass es dir jetzt nicht mehr so viel ausmacht. Ich meine, du hast ja auch vorhin erzählt, dass du jetzt bereits seit zehn Jahren die MS hast. Wie war das denn in den Anfangsjahren, falls du dich überhaupt noch daran erinnerst?

Jenni [00:09:26] Ich weiß, dass es mich sehr verunsichert hat, weil ich dachte: „Ich habe das Ganze noch nicht so lange. Vielleicht weiß es ja jemand wirklich besser als ich. Könnte ja alles sein.“ Aber mittlerweile… es ist meine MS mit meinem Körper. Das weiß niemand besser.

Angy [00:09:43] Okay, das heißt, du hast da für dich über die Jahre auch dazugelernt und gehst inzwischen anders mit diesen Ratschlägen um?

Jenni [00:09:54] Absolut. Man lernt, mit der gesamten Situation umzugehen.

Angy [00:09:59] Gab es da vielleicht auch bestimmte Menschen, die dich in diesem ganzen Prozess unterstützt haben, damit besser umgehen zu können?

Jenni [00:10:09] Ja, auf jeden Fall. Meine Familie und mein Freundeskreis, definitiv! Und geholfen hat mir natürlich auch die ein oder andere Selbsthilfegruppe. Es tut natürlich immer gut, sich dann auch mit Menschen auszutauschen, die das alles, wie soll ich sagen, ja, nachfühlen können.

Angy [00:10:31] Ja, da kommen wir auch gleich auch nochmal kurz darauf zu sprechen. Vorher habe ich aber noch eine andere Frage. Du hattest ja eben auch erzählt, dass es immer darauf ankommt, wie Menschen dich ansprechen… auf die Fatigue zum Beispiel. Es ist ja manchmal so, dass Menschen Dinge einfach aus Unwissenheit tun. Und natürlich auch oft niemanden verletzen möchten. Was hast du denn für Ideen oder Tipps, wenn du sagst: „Ihr könnt mich gerne ansprechen. Vielleicht tut ihr das auf die oder jene Art und Weise.“ Was würdest du da den Menschen raten?

Jenni [00:11:06] Das ist tatsächlich eine schwierige Frage. Ich persönlich finde es am besten, wenn man wirklich offen und ehrlich kommuniziert, dass man gerne mehr darüber erfahren möchte oder auch gezielte Fragen stellt, wie sich z.B. ein Schub anfühlt oder ankündigt. Aber halt wirklich freundlich, höflich…

Angy [00:11:29] Ich ergänze noch mal, was du vorhin gesagt hast: Und ohne Unterstellung.

Jenni [00:11:33] Genau, genau.

Angy [00:11:34] Wünschst du dir denn manchmal, dass die Symptome deiner Erkrankung sichtbarer wären?

Jenni [00:11:40] Ich muss sagen, nach 10 Jahren bin ich eigentlich fast schon glücklich mit meinem Verlauf. Also ich würde eigentlich nichts daran ändern wollen.

Jennis Begeisterung für Rock Musik und wie sie durch Billy Talent die richtige Selbsthilfegruppe für sich gefunden hat.

Angy [00:11:48] Okay, das ist doch schon mal schön. Und genau, du hattest gerade auch schon mal dieses Thema Selbsthilfegruppen angesprochen und auf deinem Instagram Profil sind ja auch einige spannende Dinge, die mir direkt ins Auge gefallen sind. Unter anderem dein Tattoo, Hundefotos, Songtexte und wie du es nennst „der wichtigste Finger deiner Faust“. Fangen wir doch vielleicht mal so der Reihe nach an und beginnen mal mit dem Tattoo: „Turning Anger into Hope“ steht da. Was hat es damit auf sich?

Jenni [00:12:27] Da muss ich ein kleines bisschen weiter ausholen. Musikalisch fühle ich mich in der Rock- und Punk-Metall-Szene sehr wohl. Und eine der Lieblingsbands, die ich in meiner Jugend sehr viel gehört habe, war Billy Talent. Der Drummer ist auch an MS erkrankt und der wiederum hat diese Selbsthilfegruppe „F.U.MS“ in Kanada gegründet. Und von ihm oder aus einem Songtext ist dieses „Turning Anger into Hope“. Der Spruch hat mir gut gefallen und ich fand das ein ganz, ganz tolles Motto. Das musste unter die Haut.

Angy [00:13:09] Okay, das ist eine sehr schöne Geschichte, wie ich finde. Das hast du ja gerade auch schon angesprochen… Ich weiß jetzt nicht, ob es noch mehrere Selbsthilfegruppen waren, du hattest ja glaube ich vom Plural gesprochen. „F.U.MS“ – was bedeutet das, was hat es damit auf sich?

Jenni [00:13:27] Ich hoffe, das darf ich so sagen: Dieses „F.U.MS“ steht für „Fuck You MS“. Ich denke, der Name sagt es eigentlich schon aus. Diese Gruppe ist für junge MSler – und dieses „jung“ hat an der Stelle tatsächlich nichts mit dem Alter zu tun. Und es dreht sich nicht alles um die MS. Das war mir wichtig. Ich war zuvor in einigen MS-Gruppen gewesen und dort herrschte sehr, sehr oft fast sowas wie ein Machtkampf, ein Konkurrenzkampf, darüber, wer denn jetzt am schlimmsten gebeutelt ist. Das ist eigentlich nichts, womit ich meine Freizeit verbringen möchte.

Angy [00:14:15] Ja, okay, und das, höre ich jetzt so raus, ist in dieser Gruppe irgendwie anders.

Jenni [00:14:19] Absolut. Das ist ein Miteinander. Wäre Corona nicht, würden wir uns auch eigentlich einmal im Jahr – um den Welt-MS-Tag rum – in Dortmund treffen. Zu einem riesengroßen Treffen mit Barbecue, mit guter Musik. Aber ja... Corona versaut das ja leider seit zwei Jahren.

Angy [00:14:40] Okay, das heißt, wenn ich es jetzt richtig verstanden habe, ist es auch eine internationale Gruppe, wenn das von dem Drummer gegründet wurde?

Jenni [00:14:49] Ja, das schon. Allerdings ist das in Dortmund oder meine Zugehörigkeit betreffend, sag ich jetzt einfach mal, der deutsche Ableger davon. Wobei das Ganze auch von Aaron, von dem Drummer, tatsächlich mitunterstützt wird.

Angy [00:15:07] Ah, okay. Seit wann bist du da denn vernetzt und wie kann ich mir das so vorstellen? Also wie seid ihr denn vielleicht auch in der Corona-Zeit in Kontakt geblieben?

Jenni [00:15:16] Das ist einige Jahre her, seit ich in diese Gruppe reingegangen bin. Das dürften jetzt schon sechs oder sieben Jahre sein. Es findet eigentlich größtenteils über Facebook statt, bis auf dieses jährliche Treffen. Und man findet natürlich auch Freunde, wenn man möchte, sage ich jetzt einfach mal. Aber klar, wir sind tatsächlich über ganz Deutschland verteilt. Der ein oder andere kommt aus Flensburg nach Dortmund angereist… oder wie ich aus dem Saarland. Aber ja, hauptsächlich wird der Kontakt übers Internet, über Facebook oder auch WhatsApp gehalten.

Angy [00:15:53] Das heißt, wenn jetzt jemand zuhört und vielleicht auch Lust hat, sich dazu ein paar Informationen zu holen, kann man es ganz einfach über Facebook finden, richtig?

Jenni [00:16:03] Genau.

Angy [00:16:03] Muss man da irgendwas beachten bei der Eingabe im Suchfeld?

Jenni [00:16:07] Nee, das nicht. Hinter dem F und dem U kommt jeweils ein Punkt und dann eben das „Germany“ hinzufügen.

Angy [00:16:14] Genau, du hattest ja gerade auch schon so ein bisschen erzählt, was diese Gruppe für dich besonders gemacht hat und was da vielleicht auch der Unterschied zu anderen Selbsthilfegruppen ist. Gibt es da noch eine andere Gruppe, wo du sagst: „Ach, da habe ich auch so ein paar spannende Erfahrungen gemacht, die mich irgendwie weitergebracht haben“?

Jenni [00:16:34] Ich muss ehrlich gestehen: In allen anderen Gruppen habe ich eher schlechte Erfahrungen gesammelt.

Angy [00:16:41] Ja, dann ist das so, Jenni. Deswegen sind wir ja hier, um uns auszutauschen.

Jenni [00:16:46] So viel zu diesem Macht- oder diesem Konkurrenzkampf.

Angy [00:16:52] Erzähl doch noch mal kurz, in welcher Form hat dir denn der Austausch mit den Mitgliedern dieser Gruppe unter anderem auch dabei geholfen, dass du heute – wie du es vorhin auch gesagt hast – gelassener mit dummen Ratschlägen, blöden Kommentaren und so weiter umgehen kannst?

Jenni [00:17:10] Wir haben zeitweise in dieser Gruppe – ich hoffe, das darf ich sagen – sowas wie ein „Bullshit-Bingo“ veranstaltet. Also irgendjemand hatte einen schlechten Tag, hat darüber geschrieben und irgendwann ist das Ganze dann in sehr viel Humor umgekippt, weil wir uns alle diese „gut gemeinten“ aber eigentlich schlechten Ratschläge virtuell um die Ohren gehauen haben, so dass man letzten Endes wirklich drüber lachen kann. Es tröstet, es hilft, wenn man sich was von der Seele schreibt und irgendjemand kommentiert: „Pass mal auf, ich hatte das vor ein paar Jahren. Ich habe diesen Trick versucht oder das versucht.“ Es hilft, es tröstet!

Von einer Facebook-Bekanntschaft zur Patentante – Wie sich in der Selbsthilfegruppe wahre Freundschaften entwickelt haben.

Angy [00:17:51] Okay. Und du hast vorhin noch gesagt, da können Freundschaften entstehen. Das heißt, kann ich mir das so vorstellen, dass du jetzt mit einigen Mitgliedern auch regelmäßigen Kontakt hast und ihr euch vielleicht auch gegenseitig im privaten Bereich unterstützt, auch außerhalb der Gruppe?

Jenni [00:18:10] Absolut, absolut. Also zwei Freunde oder Freundinnen habe ich durch puren Zufall gefunden. Also wir haben sehr regen Kontakt, sag ich mal.

Angy [00:18:22] Wie weit seid ihr auseinander und wie haltet ihr den Kontakt?

Jenni [00:18:26] Größtenteils tatsächlich durch Videotelefonie, weil beide gerade ein Baby gekriegt haben – also jeweils natürlich. Von dem einen kleinen Mäuschen bin ich auch die Patentante – so tief sind wir mittlerweile miteinander verwurzelt. Ja, größtenteils wie gesagt über Videotelefonie, weil es doch schon um die 600 km sind. Die fährt man nicht mal spontan hoch oder runter.

Was es mit dem wichtigsten Finger von Jennis Faust auf sich hat und wie Jenni Instagram als Ventil nutzt.

Angy [00:18:53] Okay, und Hundefotos habe ich auch noch auf deinem Instagram-Kanal gesehen. Du hast ja vorhin auch schon kurz gesagt, du lebst zusammen mit deinem Hund... Oder mit einem Hund.

Jenni [00:19:03] Ja genau, Familienhund. Geteiltes Sorgerecht.

Angy [00:19:08] Okay, das heißt, der wird dann immer mal ein bisschen rumgereicht?

Jenni [00:19:11] So ist es, genau! Wenn Familie Eins was vorhat, passt Familie Zwei auf.

Angy [00:19:16] Genau, dann gab es ja auch noch die Songtexte, die ich gefunden habe. Und was mich ja besonders interessiert, ist das Thema „der wichtigste Finger deiner Faust“. Erzähl doch dazu nochmal ein bisschen was.

Jenni [00:19:29] Ja, wenn man sich mein Profil anschaut, kann man unschwer erkennen, dass ich auch ein riesengroßer Fan von Jupiter Jones bin. Und dieser Song „der wichtigste Finger einer Faust“, kam gerade an einem Tag raus, wo meine Welt so ein bisschen zusammengebrochen ist und ich dachte: „Mhm. Ihr versteht mich!“

Angy [00:19:49] Okay. Hatte das auch was mit MS zu tun und möchtest du vielleicht was dazu erzählen?

Jenni [00:19:54] Nee, tatsächlich hatte die MS gar nichts damit zu tun. Da hat sich nur... Es gibt so einen ganz süßen Spruch: „Es ruckelt immer ein wenig, wenn das Leben sich neu sortiert.“ Und an dem Tag gab es ein Erdbeben.

Angy [00:20:10] Und dann kam der Song und hat irgendwie für dich gepasst?

Jenni [00:20:14] Genau. Absolut.

Angy [00:20:15] Wie die Faust aufs Auge.

Jenni [00:20:18] Absolut. Ich meine, ganz ehrlich, gelegentlich muss man mal Mittelfinger verteilen.

Angy [00:20:24] Ja, das ist auch eine schöne Ansicht auf die Dinge, finde ich. Also, liebe Jenni, was gibt es denn noch, was dich unterstützt, wenn es dir mal schlecht geht? Ist vielleicht auch Instagram so eine Art „Ventil“, das du für dich nutzt?

Jenni [00:20:40] Absolut. Instagram ist… Da kann ich loslassen, was ich loslassen will. Ich werde allerdings nie zu persönlich. Aber ja, natürlich gerade auch durch diese ganzen Hashtags kann man sich noch besser vernetzen, sag ich jetzt einfach mal. Und klar, auch durch Instagram sind tatsächlich schon Freundschaften entstanden. Von daher... Gelegentlich mal Trost oder auch Rat suchen funktioniert da ganz gut.

Angy [00:21:11] Du bist ja jetzt schon erfahren, bist schon deinen Weg gegangen und kannst inzwischen, wie du selbst erzählt hast, auch besser mit diesen ganzen Dingen, wie Kommentaren oder Ratschlägen, umgehen. Jetzt gibt es natürlich manche, die hören uns vielleicht zu und sind jetzt gerade neu diagnostiziert oder haben die MS noch nicht so lange. Welche konkreten Tipps im Umgang mit der Erkrankung hast du für andere Betroffene?

Jenni [00:21:38] Ruhig bleiben. Zuerst mal ruhig bleiben. Ich weiß selbst, das ist eine „ordentliche“ Diagnose. Das ist ein ordentlicher Schlag. Aber es ist gar nicht so schlimm, wie es sich anfangs anfühlt oder anhört. Ganz wichtig: Lasst euch nicht von irgendwelchen außenstehenden Menschen sagen, wie ihr euch zu fühlen habt. Hört auf euren Körper.

Angy [00:22:03] Ja, danke dafür. Und gab es noch irgendwas in den letzten 10 Jahren, wo du sagst: „Das habe ich gemacht oder mal ausprobiert und es hat mich irgendwie total weitergebracht“? Also irgendwas, das du jetzt vielleicht noch nicht genannt hast…

Jenni [00:22:19] Was mich wirklich sehr weitergebracht hat: Ich habe gelernt auf meinen Körper zu hören. Also wenn der mir sagt: „Nee, heute ist kein guter Tag, mach mal nicht zu viel, mach dir nicht so viel Stress. Gönn dir eine Pause“, dann höre ich auch mittlerweile tatsächlich auf ihn. In den meisten Fällen ist es auch nicht die schlechteste Idee.

Angy [00:22:40] Und kannst du sagen, dass das vielleicht auch eine positive Entwicklung war in den 10 Jahren? War das so ein Weg, den du erst gehen musstest, oder hast du das von Anfang an gemacht?

Jenni [00:22:51] Nee, das musste ich lernen. Wenn man das so sagen kann: Das hat mir die MS tatsächlich beigebracht.

Angy [00:22:58] Das heißt, es gibt auch so ein paar Dinge, die du positiv für dich mitnimmst, um eben mehr auf dich Acht zu geben?

„Turning Anger Into Hope“ – Jennis Rückblick auf die letzten 10 Jahre mit MS und wie sich ihr Blick auf die Krankheit verändert hat.

Jenni [00:23:07] Absolut, absolut. Ich muss auch sagen, nach fast 10 Jahren: Ich bin meiner MS fast schon dankbar. Ich möchte meine Erkrankung nicht – jetzt fehlt mir das Wort – als „Feind“ sehen, sondern tatsächlich würde ich sie lieber als Freund sehen, um nicht ganz so negativ eingestellt zu sein. Ich bin eine hoffnungslose Optimistin.

Angy [00:23:33] Ja, das hört sich auch nach, sage ich mal, einer bewussten Entscheidung an. Und wie war das? Also wenn du da noch mal die 10 Jahre reflektierst, war das immer so?

Jenni [00:23:47] Nein, absolut nicht. Ich habe sie jahrelang verflucht – nicht nur die MS, eigentlich das gesamte Universum. Natürlich habe ich mir auch die Frage gestellt, warum ich? Auf die Frage habe ich übrigens nie eine Antwort gefunden… Also lasst das. Stellt euch die Frage nicht. Aber irgendwann wurde dieses „sich dagegen wehren“ für mich persönlich einfach zu anstrengend, sag ich jetzt einfach mal. Und ich kann im Nachhinein betrachtet wirklich sagen: „Wenn es mir psychisch nicht gut ging, hatte ich einen Schub.“ Allerdings kamen von meiner MS vorher immer Warnungen im Sinne von Fatigue, von Taubheitsgefühlen, Kribbeln in Armen und Beinen... Ich habe nur nie drauf gehört. Bis es dann halt zum Schub kam, wenn es dann im Prinzip zu spät war. Und mittlerweile sind wir eigentlich fast ein eingespieltes Team.

Angy [00:24:46] Kannst du dich noch erinnern, was für dich die Gründe für waren, weshalb du da nicht drauf hören wolltest?

Jenni [00:24:55] Unangebrachter Stolz, glaube ich. Ich weiß nicht. Ich wollte die MS nicht. Ich wollte sie vor allem nicht akzeptieren, weil bei chronischen Erkrankungen, egal welcher Art… Es wird ja vorher nie gefragt, ob man damit einverstanden ist, wenn die dann ab sofort mit im Körper lebt. Ich wollte es nie akzeptieren und mittlerweile habe ich es einfach akzeptiert. Sie gehört zu mir. Punkt.

Angy [00:25:21] Und das, höre ich raus, hat jetzt auf jeden Fall einen Unterschied für dich gemacht – auch in der ganzen Einstellung zum Leben und zum Umgang mit der eigenen MS.

Jennis Tipps für andere Betroffene: Wie Jenni es geschafft hat, mit ihrer MS in Einklang zu sein.

Jenni [00:25:30] Definitiv. Ich habe auch mittlerweile meinen Freundeskreis ziemlich aussortiert, sag ich jetzt einfach mal, und hab wirklich nur noch Menschen in meinem Umfeld... Auch wenn ich denen kurzfristig absage, weil es mir nicht gut geht... Das ist in Ordnung. Die tolerieren das, die akzeptieren das. Und da brauche ich nicht noch mehr Druck oder mehr Stress von außen, weil mir irgendwie Schuldgefühle gemacht werden oder sowas.

Angy [00:25:58] Wow, das hört sich wirklich nach einem spannenden Weg an, den du da gegangen bist und der für dich gut ausgegangen ist, weil du einfach mehr auf dich und deinen Körper hörst. Das klingt sehr schön. Ja, ich danke dir schon mal ganz herzlich, Jenni, dass du heute – noch bist du ja da – da bist und möchte dir zum Schluss nochmal die Möglichkeit geben, vielleicht noch irgendwas loszuwerden, was wir jetzt zusammen noch nicht besprochen haben. Oder vielleicht möchtest du auch noch ein Wort an diejenigen richten, die MS haben. Was würdest du denen noch gerne mit auf den Weg geben?

Jenni [00:26:33] Zuerst nochmal vielen Dank für die Einladung. Wenn ihr gerade erst diese Diagnose erhalten habt: es ist wirklich nicht so schlimm, wie es sich anhört. Vor allem was Google so ausspuckt, das ist nicht wirklich die Realität. So geht es nicht jedem. Gerade im Internet findet man sehr viele sehr negative Beispiele. Aber es ist wirklich kein Todesurteil und ich gehe immer noch nach fast 10 Jahren Vollzeit arbeiten. Also es ändert sich tatsächlich nicht so unfassbar viel.

Verabschiedung

Angy [00:27:14] Das ist doch ein schönes Schlusswort. Ich danke dir ganz herzlich, liebe Jenni.

Jenni [00:27:20] Vielen Dank.

Angy [00:27:21] Schön, dass du da warst. Und ja, wir hoffen, dass euch diese Folge gefallen hat und ihr wieder einige Tipps mitnehmen konntet. Und schön, wenn ihr bei der nächsten Folge auch wieder mit dabei seid.

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