Gliederung der Podcastfolge:
Angy [00:00:00] Herzlich willkommen zu „Sprich’s aus! Bei MS“. Mein Name ist Angy Caspar und gemeinsam mit meinen Gästen sprechen wir in diesem Podcast über die Krankheit der 1000 Gesichter. Hör rein, wenn du mehr über ihre inspirierenden Geschichten und Erfahrungen zu dem Umgang mit der Erkrankung im Alltag erfahren möchtest. Denn bei MS kann man eine Menge machen. Viel Freude beim Zuhören.
Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von „Sprich’s aus! Bei MS“. Ich freue mich sehr, dass ihr wieder dabei seid. In diesem Podcast sprechen wir über Themen rund um Multiple Sklerose, tauschen Erfahrung aus und geben Tipps für das Leben mit MS. Und heute spreche ich mit Regina Rikowski darüber, was sie sich motiviert, sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen, und darüber, sich Grenzen zu setzen und manchmal auch über diese hinauszuwachsen. Herzlich willkommen, liebe Regina.
Regina [00:01:04] Hallo, schön, dass ich dabei sein kann.
Angy [00:01:06] Schön, dass du da bist und vielen Dank, dass du dir heute die Zeit genommen hast, in unserem Podcast zu Gast zu sein. Es freut mich sehr, dass wir heute miteinander sprechen können und dass du uns von deinen Erfahrungen und deinem Umgang mit der MS erzählst. Bitte stell dich unseren Zuhörenden einmal vor.
Regina [00:01:25] Ich bin Regina, 32 Jahre alt, gebürtige Schwedin, die eigentlich nur für drei Monate ihre zweite Heimat erkunden wollte und die bis jetzt hiergeblieben ist. Das ist jetzt über 10 Jahre her. Ich bin Krankenschwester und meine Hobbys sind Konzerte, Diamond Painting, Sport und das Wandern natürlich.
Angy [00:01:45] Seit wann hast du MS, Regina?
Regina [00:01:49] Ich habe 2014 die Diagnose bekommen, aber höchstwahrscheinlich habe ich die Krankheit schon sehr viel länger.
Angy [00:01:54] Wenn du dich an die Zeit vor der Diagnose erinnerst: Wie haben sich deine ersten Symptome gezeigt?
Regina [00:02:02] Das waren vor allem die Sehstörungen, die immer wieder gekommen sind und wieder weg waren. Zusätzlich hatte ich auch noch diese starke Müdigkeit. Das waren die Symptome, die für mich am auffallendsten waren.
Angy [00:02:14] Kannst du das nochmal genauer erklären, Regina? Was genau ist da passiert und wie hast du das gemerkt?
Regina [00:02:23] Ich habe zum Beispiel an den Wochenenden gemerkt, dass meine Freunde die drei Tage auf einem Festival durchgefeiert haben und ich war froh, wenn ich einen halben oder einen Tag geschafft habe. Das hat mich schon ziemlich hellhörig gemacht. Bei den Sehstörungen war das immer, wie ein verschwommenes Sehen und ich hatte das Gefühl, dass ein Sehfeld zum Teil fehlen würde. Ich habe öfter mal die Frage stellen müssen: „Was steht denn da eigentlich auf dem Schild?“ Aber auch gerade beim Mindesthaltbarkeitsdatum, das immer sehr klein geschrieben ist, stand ich dann auch davor und meinte: „Sag mal, kannst du mir das mal vorlesen? Ich sehe das nicht.“
Angy [00:03:00] Okay, jetzt hast du gerade schon die Symptome angesprochen, die sich bei dir geäußert haben. Wie lange hat es denn nach den Symptomen gedauert, bis die Diagnose MS gestellt wurde?
Regina [00:03:03] Das hat im Endeffekt sehr lange gedauert. Rückwirkend wahrscheinlich sogar schon seit 2006. Zu dem Zeitpunkt wurden viele diagnostische Maßnahmen in Schweden gemacht, wo auch noch Sachen gefehlt haben. Man hat auch vieles auf eine angeborene Gehirnveränderung, die ich habe, geschoben. Bis dann einer in Deutschland irgendwann mal, als die Symptome sich zugespitzt haben, dann doch genauer nachgeschaut hat.
Angy [00:03:26] Welche Gefühle hat die Diagnose bei dir im ersten Moment ausgelöst?
Regina [00:03:30] Im ersten Moment, muss ich sagen, war ich irgendwie froh, weil ich endlich etwas hatte, womit ich arbeiten konnte. Es war ja sehr lange immer die Überlegung: „Was ist das denn jetzt? Sie bilden sich das ein. Sie haben doch gar nichts.“ Ich war dann irgendwann echt froh, dass ich etwas Handfestes hatte, womit ich arbeiten konnte.
Angy [00:03:49] Wie ging es dann für dich weiter? Wie viel wusstest du zu diesem Zeitpunkt schon über die Krankheit selbst?
Regina [00:03:55] Als Krankenschwester wusste ich natürlich schon relativ viel. Ich hatte beide Verläufe gesehen. Einmal diejenigen, denen es sehr schlecht ging, aber auch diejenigen, denen es sehr gut ging – und das selbst 20 Jahre nach der Diagnose. Dadurch hatte ich nicht direkt Angst davor. Klar, es ist immer was anderes, wenn es einen selbst dann betrifft – da kriegt man nochmal eine ganz andere Perspektive. Aber ich hatte nicht sofort den Gedanken: „Oh Gott, ein Rollstuhl“, oder: „Ich kann nächstes Jahr nicht mehr arbeiten, nur weil dann irgendwelche Symptome kommen“.
Angy [00:04:29] Wie du bereits gesagt hast, wusstest du als Krankenschwester schon ziemlich viel. Gab es dennoch Dinge, die du nicht wusstest und worüber du dich dann alternativ informiert hast?
Regina [00:04:45] Natürlich gab es Sachen wie spezifische Medikamente, zum Beispiel. Das geht man in der Tiefe eher nicht durch, vor allem, weil ich zu dem Zeitpunkt auch nicht in dem Fachbereich gearbeitet habe. Das heißt, da musste ich mich selbst informieren. Ich musste Sachen klären wie: „Wie ist das jetzt? Welche Medikamente stehen mir zur Verfügung? Möchte ich das überhaupt?“ Es ging eher so in diese Richtung. Ich habe mich gar nicht so sehr mit der MS an sich, mit ihren Symptomen und so weiter beschäftigt, sondern eher damit, was es an Medikamenten gibt und was ich selbst dagegen tun kann.
Angy [00:05:08] Und wie geht es dir aktuell mit der MS?
Regina [00:05:12] Im Moment geht es mir sehr gut, muss ich sagen. Vor allem nach dem letzten Kortison-Stoß. Insgesamt, muss ich sagen, geht es mir schon deutlich besser als zur Diagnose-Zeit.
Angy [00:05:24] Wie hat denn dein Umfeld damals darauf reagiert?
Regina [00:05:27] Es war sehr, sehr unterschiedlich. Einige haben es ganz gut aufgenommen. Mein Freund hat es z.B. sehr gut aufgenommen und gesagt: „Das kriegen wir so hin, mach dir keine Sorgen.“ Andere haben sich sehr zurückgezogen, weil sie nicht wussten, wie sie damit umgehen sollen. Mein Vater hat zum Beispiel sehr, sehr lange an eine Fehldiagnose gedacht und konnte das gar nicht annehmen. Es gab sehr viele verschiedene Reaktionen.
Angy [00:05:52] Wie bist du dann damit umgegangen? Vor allem mit dem, wie dein Vater damit umgegangen ist beziehungsweise, wie er reagiert hat?
Regina [00:05:59] Es war natürlich nicht immer einfach, aber ich habe versucht, auch die andere Seite zu verstehen. Aber ja, das war schon eine der schwierigeren Sachen, gerade wenn Leute sich eher zurückgezogen haben, war das nicht so einfach.
Angy [00:06:15] Und was hast du dann gemacht? Das hört sich im ersten Moment wie eine Einbahnstraße an.
Regina [00:06:23] Ich habe vieles einfach erst mal sacken lassen. Natürlich ist das ein Schock und ich habe auch versucht es auszublenden. Es kamen von jeder Seite tausend Ratschläge. Jeder meint es natürlich sehr gut: „Ich habe gehört mein Nachbar hat…“ – Ja, aber das betrifft nun mal nicht mich! Sowas habe ich versucht auszublenden. Zu dem Zeitpunkt habe ich dann schon frühzeitig versucht, mein Leben umzukrempeln und zu verstehen, was aktuell geht und was nicht.
Angy [00:06:54] Wenn du noch mal zurückblickst auf diese Zeit: Was hast du für dich als Fazit mitgenommen?
Regina [00:07:00] Als Fazit hätte ich mir glaube ich mehr Austausch mit Betroffenen gewünscht, denn das gab es zu dem Zeitpunkt noch nicht so sehr – oder ich habe es zu dem Zeitpunkt nicht gewusst. Das hat mir so ein bisschen gefehlt. Dadurch hatte ich halt eher eine Kommunikation mit Freunden, Leuten auf der Arbeit oder Angehörigen, die natürlich doch nochmal in einem anderen Bezug dazu stehen.
Angy [00:07:22] Und was wünschst du dir für die Zukunft von deinem Umfeld, vielleicht auch von Menschen, denen du in Zukunft begegnen wirst?
Regina [00:07:32] Ich würde mir wünschen, dass sie offen auf einen zugehen und nicht direkt das „Vorurteile-Hängeschild“ sehen und dann beispielsweise – mein krassestes Beispiel – fragen: „Wie lange hast du denn noch zu leben? Worauf muss ich mich einstellen? Können wir denn überhaupt noch feiern gehen zusammen?“. Sowas hat mich geschockt, dass Menschen direkt diese Schublade aufgemacht haben. Das fand ich sehr schwierig. Abe auch dieses „in Watte packen“ fand ich schwierig.
Angy [00:08:00] Okay, was wünschst du dir denn konkret? Formuliere gerne mal, was du dir wünschst, wie sich Menschen verhalten sollen, wenn sie erfahren, dass jemand im Freundes- oder Bekanntenkreis MS hat.
Regina [00:08:13] Ich selbst hätte mir gewünscht, dass man offener auf mich zugeht, dass man Fragen stellt und dass man auch Hilfe anbietet, je nachdem was die Einschränkungen sein können. Man darf jedoch den Betroffenen nicht zu sehr „in Watte packen“, nach dem Motto: „Jetzt kann er gar nix mehr“, weil dann ein Gefühl der Hilflosigkeit bei den Betroffenen entstehen kann und der Betroffene denkt: „Kann ich jetzt wirklich nichts mehr, oder was?“. Nur weil ich schlecht sehe, heißt es jetzt, dass ich nicht mehr laufen kann? Ich würde mir wünschen, dass man an der Stelle anders auf die Leute eingeht und sie nicht mit eigenen Erfahrungen überschüttet, nur weil man vom Nachbarn XY gehört hat. Das verunsichert einen sehr, wenn jeder mitredet und jeder eine Meinung dazu hat.
Angy [00:08:57] Ich kann sehr gut nachvollziehen, was du damit meinst. Inzwischen gehst du sehr offen damit um, hast sogar ein eigenes Instagram-Profil und nimmst deine Follower darin mit und zeigst ihnen im wahrsten Sinne des Wortes deinen Weg. Denn du bestreitest sogenannte Wander-Marathons. Was genau kann man sich darunter vorstellen?
Regina [00:09:20] Dabei geht es zum Beispiel darum, 100 Kilometern in unter 24 Stunden oder 50 Kilometern in unter 12 Stunden zu schaffen. Ich persönlich strebe dann eher die 50 Kilometer in unter 12 Stunden an. Es gibt aber natürlich auch noch viele andere, bei denen es nicht um die Zeit geht, sondern es einfach darum geht, insgesamt die 60 Kilometer oder 42 Kilometer zu bestreiten. Das ist sehr unterschiedlich und kommt auf die Veranstaltung an.
Angy [00:09:45] Ehrlich gesagt, habe ich vor unserem Gespräch, noch nie etwas davon gehört und ich finde es total spannend und beeindruckend. Deswegen hat es mich natürlich sofort interessiert, wie man auf eine solche Idee kommt?
Regina [00:09:57] Ich muss sagen, das war eine Schnapsidee, die dann zum Hobby geworden ist. Also ich bin ehrenamtlich in einem Verein tätig und wir saßen dort zusammen und haben Sportveranstaltungen aufgelistet, die man betreiben könnte. Und da sagte meine Bekannte: „Schau mal. Wollen wir das mit auflisten?“, „Was ist das?“, „Da geht man diese 50 oder 100 Kilometer.“, „Oh, das klingt spannend, da melde ich mich an!“. Sofort kamen diese vielsagenden Blicke: „Ah ja, du willst dich da anmelden?“, „Ja, das mache ich morgen. Ich muss das ausprobieren.“ Ich bin völlig blauäugig darein. Eigentlich wollte ich nur einen Marsch mitmachen, um mal zu gucken, wie weit ich komme. Am 40 Kilometer Schild habe ich dann gesagt: „So, ich muss einen weiteren Marsch machen, das hat Spaß gemacht.“
Angy [00:10:37] Ich kann mir das also so vorstellen, dass es da ganze Vereine gibt oder auch Leute, die das regelmäßig aus Spaß an der Freude machen?
Regina [00:10:46] Es gibt verschiedene Veranstalter und jeder einzelne hat seine Art, das auszulegen. Der eine sagt: „wenn man so und so viele Kilometer schafft, kriegt man eine Medaille.“, der andere sagt: „bei 20, 40, 60, 100 Kilometern kriegt man eine Urkunde“. Das ist immer sehr unterschiedlich. Man kann sich das so vorstellen, dass jeder Marsch anders ist. Gerade jetzt zu Corona-Zeiten ist es sowieso anders. Es gibt jetzt Do-It-Yourself Märsche, wo sich jeder seine Route selbst aussuchen kann. Das ist sehr unterschiedlich.
Angy [00:11:21] Wenn jetzt kein Corona ist – das interessiert mich total – wie läuft so ein Marathon ab und wo findet er statt?
Regina [00:11:25] Sie finden überall in ganz Deutschland statt, an verschiedenen Veranstaltungsorten, wie z.B. München, Hamburg oder Berlin. In Berlin war ich sogar selbst schon mal. Es findet also in ganz Deutschland statt und jeder kann in jeder Stadt daran teilnehmen, wenn er will. Der Ablauf sieht so aus: Man meldet sich für einen bestimmten Zeitpunkt, zu einer gewissen Startzeit an, und dann kommt man zum Start. Dort kriegt man sein Büchlein mit Infos und dann geht’s los. Auf dem Weg gibt es verschiedene Versorgungpunkte, wo man sein Essen und seine Getränke auffüllen kann. Es gibt natürlich auch Sanitätsstationen. Und dann geht es immer weiter – auch auf dem Weg befinden sich Stationen, wo es die Urkunden gibt, die da verteilt werden – bis man dann am Ende hoffentlich im Ziel ist.
Angy [00:12:07] Wie viele Menschen nehmen denn an so einem Marathon teil?
Regina [00:12:11] Das ist sehr, sehr unterschiedlich. Ich kenne Marathons, da waren es circa 2000 Leute, die mitgemacht haben, aber es gibt auch Marathons mit 1500 Teilnehmern. Das ist sehr unterschiedlich, je nach Stadt und je nach Themen.
Angy [00:12:23] Wann hast du deinen ersten Marathon absolviert und wo war der?
Regina [00:12:27] Das war 2019 in Hamburg.
Angy [00:12:33] Erzähl doch mal kurz, wie es für dich war, als du den geschafft hattest?
Regina [00:12:41] Also den habe ich gar nicht beendet. Da war mein Ziel, das ich mir gesetzt habe, die erste Urkunden-Station zu schaffen und die lag bei 40 Kilometern. Das war mein Ziel. Mir war ja klar, man muss auch anfangs seine Grenzen einsehen und verstehen, dass keiner mit 100 Kilometern in 24 Stunden anfängt – ohne Training, ohne alles, zu dem Zeitpunkt noch mit Medikamenten, die das Gehen unterstützen und dazu noch mit einer Orthese am Bein. Da musste ich natürlich auch ein paar Fakten einsehen. Aber es war ganz spannend. Es war etwas vollkommen Neues. Ich habe mich sehr wenig vorbereitet, habe mich sechs Wochen vor Start angemeldet, bin wirklich blauäugig darein gegangen und war echt erstaunt, wie gut das eigentlich geklappt hat – obwohl ich da so blauäugig reingesprungen bin.
Angy [00:13:24] Okay, jetzt hast du gerade auch schon was angesprochen, nämlich die Vorbereitung. Wie kann ich mir die Vorbereitung für so einen Marathon vorstellen?
Regina [00:13:26] Also ich versuche ein abwechslungsreiches Programm zu haben: Normale Work-Outs und Intervalltraining aber auch natürlich normales Laufen, weitere Strecken gehen. Bei meinem ersten Marsch war nämlich zum Beispiel das größte Problem, dass ich Rückenschmerzen hatte vom langen Rucksack tragen – und nicht meine Beine.
Angy [00:13:45] Ah, okay. Man hat also da auch einen Rucksack dabei, ist das richtig?
Regina [00:13:49] Genau, die meisten haben einen Rucksack dabei. Für die Strecke muss man ja schon etwas zu essen und Getränke dabeihaben. Eventuell braucht man, wenn es beispielsweise regnet, Regenklamotten. Und in Berlin bei 36 Grad Hitze braucht man natürlich schon mal mehr Getränke, selbst wenn es Auffüllstationen gibt. Man muss natürlich trotzdem auf jeden Fall vorbereitet sein. Im September letzten Jahres hat es zum Beispiel dauerhaft geregnet, da hatte ich nochmal mehr Sachen mit.
Angy [00:14:20] Das hört sich nach interessanten und abwechslungsreichen Bedingungen an. Was motiviert dich denn, immer wieder an diesen Marathons teilzunehmen?
Regina [00:14:30] Ich bin so motiviert, weil ich ein sehr herausforderungsfreudiger Mensch bin. Ich liebe Herausforderungen und will am liebsten alles ausprobieren. Fun Fact: Ich habe mich beispielsweise auch mal zu einem Fahrradstunt angemeldet, ohne es jemals davor gemacht zu haben. Das sagt wahrscheinlich alles. Es motiviert mich, meine Grenzen selbst auszuprobieren und zu gucken, wie weit mich mein Geist noch antreiben kann, auch wenn mein Körper nicht mehr so richtig will. Aber es geht mir auch darum, zu zeigen, was alles geht, auch mit einer MS.
Angy [00:14:59] Ja, mir ist auch gerade der Gedanke gekommen, ob diese Teilnahmen an den Wander-Marathons für dich symbolisch signalisieren, dass die MS dich nicht aufhalten kann.
Regina [00:15:07] Ja, definitiv. Es motiviert mich natürlich auch fit zu bleiben, es ist halt praktisch, weil man im Endeffekt trainiert, um am Ende den Marathon zu schaffen. Man will den Leuten einfach zeigen, was alles geht. Natürlich ist jeder Verlauf anders, auch jede Einschränkung ist anders bei der MS, mit manchen Einschränkungen ist es natürlich nicht möglich, aber für mich ist es wichtig, zu zeigen, dass es nicht unmöglich ist. Ich will vor allem den Menschen, die sagen: „Das ist nicht machbar für mich“, zeigen, dass es geht. 2017 ging es mir eine Zeit lang sehr schlecht. In der Zeit habe ich mir angewöhnt mein Gleichgewicht mit der linken Hand zu halten. Hätte man mir die Hand weggenommen, wäre ich wie ein Domino-Stein hingefallen. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich jetzt beispielsweise so einen Marathon schaffen würde, hätte ich das niemals geglaubt und gesagt: „Sei mal ehrlich, das schaffe ich nie im Leben“. Aber durch Reha, Geduld, Motivation und Training zu Hause kann man es schaffen, sich seine Fähigkeiten zurückholen.
Angy [00:16:05] Gibt es denn immer noch Situationen, in denen du auf Unverständnis stößt? Du hast ja vorhin schon einmal angesprochen, dass dir manche das nicht zugetraut haben. Gibt es dieses Unverständnis auch heute noch?
Regina [00:16:17] Das war vor allem am Anfang so. Es wurden mir Sachen gesagt wie: „Ich würde den Marathon nicht mal schaffen, wie willst du das dann schaffen? Das schaffst du doch eh nicht. Warum meldest du dich an? Du schaffst doch eh nur zehn Kilometer, wenn überhaupt. Und dafür willst du auch noch eine Startgebühr zahlen?“ Das hat mich natürlich umso wütender gemacht, umso mehr Leute mir gesagt haben, dass ich das nicht schaffe. Genau das hat mich motiviert, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Das will ich jetzt schaffen. Ich will ich denen zeigen, dass das geht.
Angy [00:16:44] Es hört sich für mich wirklich ziemlich schrecklich an, wenn Leute einem solche Sachen sagen. Wie ging es dir damals in der Situation damit, außer, dass es dich gepusht hat, es erst recht zu machen?
Regina [00:16:55] Natürlich fühlt man sich nicht unbedingt gut dabei, vor allem wenn es nahestehende Menschen sagen, dass man es eh nicht schafft. Da hätte ich mir gewünscht, dass die Leute mich mehr motiviert hätten: „Ja komm, probiere’ es doch mal aus. Versuch’s einfach! Das ist toll, egal wie weit du kommst. Dass du überhaupt an den Start gehst, ist schon toll!“ Vielleicht ist es aber auch einfach ein allgemeines Misstrauen, dass man die betroffene Person schützen will. Oftmals handelt es sich dabei auch um Menschen, die einen vor Enttäuschungen oder Verletzungen schützen wollen, was absolut verständlich ist. Trotzdem hätte ich mir mehr Motivation gewünscht, dass die Leute mehr hinter einem stehen.
Angy [00:17:29] Du bist ja auch auf Instagram unterwegs, wo alle an deinem Weg teilhaben können. Welche Resonanz bekommst du dort?
Regina [00:17:36] Ich bekomme dort sehr viel positive Resonanz. So habe ich beispielsweise auch meine Begleiter gefunden. Ich habe mal eine Umfrage gestartet und gefragt, wer gerne mal mitkommen möchte. Und seitdem habe ich auch feste Begleiter – natürlich ist weiterhin jeder herzlich willkommen mitzulaufen – mit denen ich zusammen schon mehrere Märsche gemacht habe. Das hat sich so eingebürgert. Das ist einfach sehr schön, denn die Leute motivieren einen dann schon und sagen: „Hey, das schaffst du! Das ist total spannend, ich verfolge dich dabei super gerne und schaue, wie viel du schaffst. Das inspiriert mich, ich möchte jetzt auch teilnehmen.“ Und das freut mich natürlich umso mehr, zu sehen, dass Leute durch mich motiviert werden, auch an einem Marathon teilzunehmen.
Angy [00:18:19] Kann man also sagen, dass durch die Märsche und dadurch, dass du deine Erfahrungen damit teilst und andere informierst, Freundschaften entstanden sind?
Regina [00:18:21] Ja, definitiv. Dadurch ist nicht nur eine, sondern auch mehrere Freundschaften entstanden. Ich habe ganz viele spannende Menschen kennengelernt. Jeder hat eine andere Motivation und einen eigenen Hintergrund. Es ist schon sehr spannend. Ich hätte nie gedacht, dass sich das so entwickelt.
Angy [00:18:40] Schön, sehr schön. Hast du den Eindruck, dass du anderen Menschen damit Mut machen kannst?
Regina [00:18:43] Ja, definitiv. Viele haben für sich etwas gefunden, wo sie sich auch ein Ziel setzen können, für das sie dann auch angefangen haben zu trainieren. Man muss es jedoch immer relativieren und sagen, dass man nicht immer die 50 Kilometer schaffen muss. Für jemanden, der gerade mal fünf Kilometer gehen kann, ist die 20 Kilometer Urkunde schon sehr viel wert. Selbst wenn man normalerweise einen Kilometer gehen kann, ist es sehr toll, wenn man drei Kilometer schafft. Das darf man nicht zu viel vergleichen, weil keiner weiß, wie viel Kraft, Wut und Tränen hinter diesen Märschen und hinter diesem Training stecken. Das kann man dann halt doch nicht wissen als Außenstehender.
Angy [00:19:20] Gibt es in deinem Leben weitere Beispiele oder Situationen, in denen es dir wichtig ist, zu zeigen, dass du dir das auch alles mit MS leisten kannst? Du hattest ja bereits diesen Fahrradstunt angesprochen...
Regina [00:19:35] Dazu kann ich eigentlich etwas relativ Allgemeines sagen. Ich bin z.B. froh, dass ich noch arbeiten und reisen kann. Natürlich muss man einige Sachen immer beachten, aber ich finde, dass man trotz der Einschränkungen noch sehr viel machen kann. Viele denken immer: „Ja, aber dann kannst du ja gar nichts mehr machen“. Doch, kann man, selbst mit Einschränkungen. Ich bin auch mit Schiene, Tabletten und meiner Spritze in den Urlaub geflogen. Ich habe mich davon auch nicht aufhalten lassen und gesagt: „Ich bleibe doch eh im Zoll stecken“, sondern ich habe mir die entsprechenden Bescheinigungen besorgt. Ich musste mich natürlich zusätzlich auf den Urlaub und die Umgebung vorbereiten, aber das geht. Genau das versuche ich immer den Leuten zu vermitteln: dass das Leben nicht vorbei ist.
Angy [00:20:14] Für mich wirkt das alles sehr beeindruckend. Ich frage mich, woher du die Kraft schöpfst, all diese Dinge umzusetzen, die du dir vornimmst.
Regina [00:20:22] Ein wichtiger Teil ist, dass ich es mir selbst beweisen will, mir vor Augen halten will, dass es geht. Also, dass ich mich da auch sehe, immer wieder. Ich war schon immer ein Mensch mit Herausforderungen. Das motiviert mich einfach, aktiv und fit zu bleiben. Andererseits motiviert es mich, anderen Betroffenen oder auch Außenstehenden, die nicht betroffen sind, zu zeigen, dass es geht. Ich kenne auch einige Leute, die überhaupt nichts mit einer chronischen Erkrankung zu tun haben, die auch an diesen Märschen teilnehmen wollen oder etwas ausprobieren wollen – weil sie dadurch inspiriert werden, dass es jemand mit einer Erkrankung schafft.
Angy [00:20:59] Gibt es Momente, in denen du merkst, dass du dir Grenzen setzen musst?
Regina [00:21:01] Ja, definitiv. Da bin ich manchmal auch wirklich nicht so gut drin, darauf zu hören. Das muss auch ich noch lernen. Es gibt schon immer mal wieder Momente, wo man sich seine Grenze setzen muss. Ich kann einem Freund beispielsweise nicht fünf Tage hintereinander bei einem Umzug helfen, sondern nur vier oder auch mal nur drei Tage. Es ist nicht immer einfach das einzusehen, dass man nicht immer die Fitteste ist, die immer helfen kann. Manchmal muss man sich einfach ein wenig zurücknehmen.
Angy [00:21:29] Ja. Wie geht es dir damit?
Regina [00:21:41] Am Anfang hatte ich da schon echt dran zu knabbern irgendwie. Das hat mich schon runtergezogen, weil ich gesehen habe, dass alle anderen keine Probleme hatten – jeder es irgendwie schafft. Aber man darf nun mal die Situationen nicht zu sehr miteinander vergleichen, wie ich vorher schon gesagt habe. Ich übe bis heute „nein“ zu sagen. Das ist eine Sache, die ich auch nach sieben Jahren noch nicht gelernt habe. Zumindest nicht so, wie ich es müsste.
Angy [00:21:51] Okay. Inwiefern hat sich deine Akzeptanz gegenüber der MS über die Jahre verändert?
Regina [00:22:04] Ich habe die MS eigentlich relativ schnell akzeptiert, aber es war natürlich trotzdem ein Weg bis dahin. Natürlich ist man sehr frustriert und wütend, wenn man z.B. auf dem Boden sitzt, Papiere sortiert und man plötzlich nicht mehr aufstehen kann. Dann ist man eben sehr, sehr frustriert. Aber ich habe für mich gesagt, dass wenn ich jetzt auf dem Boden sitzen bleibe und sage: „das geht nicht“, dann kann mir auch keiner helfen, weil dann kann ich diese Hilfe auch nicht annehmen. Ich habe dann Step-by-Step Konzepte entwickelt, mit denen man die MS ganz gut integrieren kann. Man muss Sachen umkrempeln, man muss Sachen verändern, Sichtweisen ändern – aber Step-by-Step geht das eigentlich. Zumindest war das bei mir so.
Angy [00:22:41] Kannst du die Signale, die dir dein Körper gibt, mittlerweile besser einschätzen und auf sie hören?
Regina [00:22:50] Ich kann sie definitiv besser einschätzen. Ich weiß z.B., dass wenn der Sommer kommt und eine Hitzewelle bekannt ist, dann sollte ich mir nicht zu viel vornehmen, beziehungsweise die Vorhaben dann erledigen, wenn das Wetter sich wieder stabilisiert hat. Das weiß ich dann schon. Ich bin auch der Meinung, dass ich mittlerweile einen Pseudo-Schub ganz gut selbst identifizieren kann. Am Anfang war ich oft mit der Befürchtung eines neuen Schubes beim Arzt, aber im Endeffekt handelte es sich nur um alte Symptome, die aufflackerten. Im Zweifelsfall sollte man natürlich immer zum Arzt gehen, aber ich denke mittlerweile, dass ich persönlich nach sieben Jahren ein Gefühl dafür bekommen habe und weiß, wann ich darauf hören sollte. Ich bin auch ganz froh, dass ich Leute in meinem Umfeld habe, die mich sehr gut kennen und mir auch mal sagen: „Regina, jetzt ist mal Schluss. Nimm dich jetzt mal zurück.“ Ich sehe das ein bisschen als Warnsystem: Wenn die Symptome zu sehr flackern, dann weiß ich, dass ich einen Gang zurückschalten sollte.
Angy [00:23:44] Wer oder was hat dich in den letzten Jahren unterstützt, sodass du die MS besser akzeptieren konntest?
Regina [00:23:52] Es sind vor allem Freunde, Familie und mein Partner, die mich unterstützt haben. Aber auch die MS-Community und Betroffene haben mir geholfen, weil sie mir einen neuen, anderen Blickwinkel zeigen. Die haben ja vieles schon erlebt und man teilt gemeinsame Erfahrungen, selbst wenn jeder Verlauf anders ist – jeder hat mal eine Sehstörung gehabt. Aber ich habe schon echt sehr viel Unterstützung aus dem familiären Umfeld erhalten. Mein Freund hat mit mir hier nachts um drei Uhr irgendwelche Übungen gemacht, weil ich am nächsten Tag unbedingt auf Inlinern stehen wollte – da haben wir abends noch geübt. Eine Freundin von mir hat mit mir im Auto Denkspiele gemacht, bei denen ich mir am Anfang der Fahrt fünf Wörter merken musste, an die ich mich dann am Ende der Fahrt erinnern musste. Zu dem Zeitpunkt hatte ich immer Probleme mit dem Gedächtnis. Da hatte ich schon sehr großes Glück, dass ich so viel Hilfe hatte.
Angy [00:24:45] Hast du dir auch Hilfe außerhalb deines Freundes- und Familienkreises gesucht?
Regina [00:24:58] Ich habe für mich gesagt, dass ich sowas wie Therapieangebote, Reha, Physiotherapie auf jeden Fall annehmen möchte. Ich wollte mir klar machen, dass es keine Schande ist, Hilfe anzunehmen. Ich persönlich habe auch kein Problem mit einer Schiene durch die Gegend zu laufen. Ich weiß von einigen Leuten, die damit ein sehr großes Problem haben, was natürlich auch in Ordnung ist. Jeder geht anders damit um. Aber ich habe mir immer gesagt: „Was ich nicht ausprobiere, kann ich auch nicht beurteilen.“ Ich kann nicht sagen, dass die Ergotherapie schlecht ist, ohne sie ausprobiert zu haben.
Angy [00:25:24] Okay. Welche Tipps möchtest du denn unseren Zuhörenden im Umgang mit der MS mit auf dem Weg geben?
Regina [00:25:37] Ganz wichtig ist: Alles kann, nichts muss. Was man bedenken muss: Jeder Verlauf ist anders und man sollte versuchen, sich nicht allzu stark zu demotivieren – selbst wenn Leute mit einer sichtbaren oder unsichtbaren Behinderung oder Einschränkung nicht so gut umgehen können. Man sollte darauf achten, dass man sich davon nicht zu sehr runterziehen lässt. Natürlich ärgert es einen in dem Moment, aber man muss dann versuchen, diese Negativität in irgendwas Positives umzuwandeln.
Angy [00:25:59] Bezüglich deiner Marathons: Hast du noch irgendwelche Pläne in naher Zukunft; Ziele oder Träume, die du verwirklichen willst?
Regina [00:26:08] Ich würde gerne irgendwann mal meinen Rekord von 63 Kilometern brechen, aber das ist auch nur eine Zeitfrage. Wann, das weiß ich noch nicht. Dafür muss ich auch definitiv mehr trainieren. Aber das sind dann wieder solche Sachen, die würden mich motivieren. Ich will auch bei mehr Veranstaltungen teilnehmen. Vielleicht probiere ich auch ein, zwei neue Marathon-Veranstalter oder auch mal eine neue, andere Stadt, die ich noch nicht kenne, aus. Einfach mal, um neue Städte zu sehen, da einige Veranstalter die Strecken auch durch die Stadt legen.
Angy [00:26:43] Gibt es irgendwelche konkreten Städte, die du gerne mal sehen würdest?
Regina [00:26:46] Ne, eigentlich nicht. Ich bin da relativ offen und schaue, wo es zeitlich bei mir passt. Und wenn man dann jemanden hat, der einen begleiten will, macht es natürlich umso mehr Spaß. Da habe ich mich jetzt nicht festgelegt.
Angy [00:26:58] Okay. Wir sind damit auch schon am Ende unseres Interviews und dieser Podcast-Folge, liebe Regina. Gibt es noch etwas, was du zum Schluss noch unbedingt loswerden möchtest? Das kann natürlich an Menschen gerichtet sein, die MS haben oder auch an Angehörige oder Bekannte.
Regina [00:27:16] Ich würde auf jeden Fall sagen: Jetzt erst recht! Egal ob mit oder ohne oder Erkrankung: jetzt erst recht! Jetzt will ich es machen! Jetzt will ich’s ausprobieren! Jetzt will ich es auch schaffen und anderen zeigen, dass es funktioniert! „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren!“, das sage ich mir immer selbst.
Angy [00:27:33] Ein wunderschönes Schlusswort, wie ich finde. Ich danke dir ganz herzlich, dass du heute Teil unseres Podcasts warst. Und wir hoffen auch, dass euch diese Folge gefallen hat und ihr einige Tipps und vielleicht sogar Motivationen von Regina mitnehmen konntet, eure Grenzen neu zu definieren. Schön, wenn ihr bei der nächsten Folge wieder dabei seid.
Vielen Dank, dass du uns zugehört hast. Du hast Anregungen, Themenvorschläge oder möchtest selbst Teil des Podcasts werden und deine Geschichte mit uns teilen? Dann schreib uns per E-Mail oder direkt auf Instagram. Im Beschreibungstext findest du alle weiteren Informationen und Adressen. Wir freuen uns auf dich.